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Israel
„Vor Israels neuer Regierung steht eine Mammutaufgabe“

Ein Interview mit Ksenia Svetlova
Avigdor Lieberman, Benny Gantz, Yair Lapid und Israels neuer Premierminister Naftali Bennett
Avigdor Lieberman, Benny Gantz, Yair Lapid und Israels neuer Premierminister Naftali Bennett bei einer ersten Kabinettssitzung in Jerusalem © picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Ariel Schalit

Im Mai ist der israelisch-palästinensische Konflikt wieder aufgeflammt. Gleichzeitig steht Israel innenpolitisch vor großen Veränderungen. Julius von Freytag-Loringhoven interviewte Ksenia Svetlova über Chancen und Schwierigkeiten der neuen Regierung.

Julius von Freytag-Loringhoven: Nach langen Zitterpartien hat der Liberale Yair Lapid hat eine breite Regierungskoalition von links bis rechts mit acht Parteien zusammengebracht, samt der ersten arabischen BeteiligungDas bedeutet das Ende der Ära Netanjahu. Glauben Sie, dass diese Regierung erfolgreich sein kann? 

Ksenia Svetlova: Ich glaube nicht, dass es in der Regierung viele Menschen gibt, die erwarten, dass sie eine volle Amtszeit von vier Jahren hält, oder auch nur die Hälfte dieser Zeit. Aktuell ist es ein Hauptziel, die Regierungszeit von Benjamin Netanjahu zu beenden. Und dann sicherlich auch ein neues Gesetz zu verabschieden, das verhindert, dass eine Regierung von jemandem gebildet werden kann, der vor Gericht angeklagt ist. Damit wird die Rechtstaatlichkeit gestützt.

Welche Chance hat die neue Regierung, auch in anderen Bereichen liberale Politik umzusetzen?

Es gibt so viele Schwierigkeiten, die diese Regierung aufgrund ihrer ideologischen Unterschiede überwinden muss, dass sie einige Probleme gleich am Anfang ausgeklammert hat. Wir können schon froh sein, wenn sie den Trend der zurückliegenden Jahre stoppt, Gesetze zu verabschieden, die individuelle Freiheitsrechte einschränken. 

Yair Lapid, der ja immerhin die stärkste Koalitionspartei führt, soll nach zwei Jahren von Bennet die Regierungsführung übernehmen. Was kann er bewirken?

Zuerst will er als Außenminister dienen. Das Außenministerium hatte Netanjahu lange komplett ausgeschaltet. Lapid wird zuerst versuchen, die Beziehungen mit den Demokraten in den Vereinigten Staaten und mit der Europäischen Union zu reparieren. Auch er hat Europa in der Vergangenheit kritisiert, aber er versteht, dass Israel Europa als Partner braucht, nicht nur als Handelspartner. 

Und was für eine Rolle können die kleineren linken Partner wie Meretz spielen? 

Es ist schon eine Revolution, dass Meretz nach zwanzig Jahren überhaupt wieder in einer Regierung ist. Damit kann sich die Partei nun wieder mit vernünftiger Fachpolitik zum Beispiel in Umweltfragen profilieren, nachdem Netanjahu sie jahrelang als Linksradikale dämonisiert hatte. Das kann schon viel zu einer Normalisierung gegen die Polarisierung der vergangenen Jahre beitragen.

Die Koalition hat angekündigt, einen Fokus auf die Erholung der Israelischen Wirtschaft nach Corona zu legen. Wird sie ernsthafte Reformen umsetzen können?

Man wird sich zuerst auf Sozialreformen einigen können. Netanjahu hat den Sozialstaat in vielen Bereichen handlungsunfähig gemacht. Das hat sich im Gesundheitsbereich bemerkbar gemacht. Corona hat gezeigt, dass es an Ärzten, Krankenschwestern und technischer Ausstattung mangelt. 

Womit können solche Sozialreformen finanziert werden? 

Es würde reichen, wenn von dem vielen Geld, mit dem die Regierung bisher Siedlungen im Westjordanland unterstützt, etwas zurück in den Sozialstaat flösse. Dann würde das Geld wieder breite Teile der Bevölkerung erreichen anstatt nur einige wenige Religiöse. 

Und können Sie sich vorstellen, dass auch Haushaltsmittel darin investiert werden, die Spaltung zwischen jüdischer und arabischer Bevölkerung im Land zu heilen?

Die gemäßigt-islamistische Ra’am-Partei hatte klare Bedingungen gestellt: ein größerer Anteil der Steuereinnahmen soll auch an die arabische Bevölkerung zurückfließen, die israelische Polizei soll mehr zur Bekämpfung der Kriminalität in arabischen Wohngegenden eingesetzt werden, und es soll Infrastrukturinvestitionen geben, damit die High-Tech-Erfolgsgeschichte Israels auch bis in die arabischen Städte reicht. 

Könnte die neue Regierung wieder einen Prozess der Aussöhnung mit den Palästinensern beginnen, auf dem Weg zu einer Zweistaatenlösung? 

Das halte ich noch für unwahrscheinlich. Denn ein zentraler Teil der Regierung, angefangen mit Bennet als Premierminister, unterstützt den Siedlungsbau. Auch fehlt es für einen so aufwendigen Prozess dieser Regierung an Zeit. Aber sie kann einige Fehler der Vorgängerregierung korrigieren und die moderaten Kräfte unter den Palästinensern wie die Fatah unterstützen. Wenn die moderaten Kräfte nicht gestützt werden, wächst der Einfluss der Radikalen wie der Hamas nur weiter. 

Was kann die neue Regierung besser machen, um den Einfluss der Hamas zu schwächen? 

Die neue Regierung könnte versuchen, die wirtschaftliche Lage der Palästinenser zu verbessern. Allein die Öffnung für mehr Importe aus Jordanien könnte die Lebensmittelpreise senken und damit die Lebensbedingungen verbessern. Durch Verhandlungen könnten man deren Autonomie stärken und die Ausweitung weiterer Siedlungen im Westjordanland anhalten. Das könnte der Anfang eines neuen politischen Prozesses der Aussöhnung werden. 

Kann Israel auch etwas für die Menschen im Gazastreifen tun, ohne die Hamas zu stärken? 

Das ist schwieriger. Der ganze Gazastreifen ist quasi von der Hamas in Geiselhaft genommen worden. Der Alltag der Menschen scheint dort auswegslos.

Was erhoffen Sie sich sonst von noch der neuen Regierung? 

Es gab nie eine ideologisch so diverse Regierung in der Geschichte Israels, schon gar nicht mit Beteiligung einer arabischen Partei. Deswegen hoffe ich vor allem, dass sie möglichst lange hält. Vor Israels neuer Regierung steht eine Mammutaufgabe. Zuerst gilt es die Rolle der Gerichte nicht weiter zu schwächen, wie es Netanjahu vorhatte. Und für einen liberaleren Kurs mit Blick auf die Religion kann es helfen, dass jetzt ein Reformrabbiner für Minister für Diasporaangelegenheiten werden soll. Die israelische Öffentlichkeit ist liberaler, als sie die alte Regierung hat aussehen lassen. 

Ksenia Svetlova ist außerordentliche Professorin an der Hebräischen Universität in Jerusalem sowie auf die arabische Nachbarschaft spezialisierte Journalistin. Sie kennt Yair Lapid und andere Mitglieder der komplexen Koalition gut aus ihrer Zeit als liberale Knesset-Abgeordnete (2015-2019).