Bulgarien
Wahlen in Bulgarien – Mission: Raus aus der politischen Krise
Wenn man im Netz „Volkssport“ und „Bulgarien“ zusammen eintippt, wird auf den entsprechenden Seiten darauf hingewiesen, dass die Bulgaren große Leidenschaft für Kraftsport, Boxen, Leichtathletik und – natürlich – Fußball hegen. Weniger Leidenschaft zeigen sie jedoch, wenn sie aufgefordert werden, ihre Stimme abzugeben: die Wahlbeteiligung lag zuletzt unter 40%. Vier Wahlen in weniger als zwei Jahren und starke Anzeichen dafür, dass auch das Ergebnis an diesem Sonntag wohl nicht die mit Sehnsucht erwartete Stabilität bringen wird, geben dem Gang zur Urne mittlerweile einen volkssportlichen Charakter.
Bulgarien befindet sich in einer politischen Krise
Das Land im Südosten Europas befindet sich seit mehr als zwei Jahren in einer Dauerschleife der politischen Krise – hier pro-europäische Kräfte, die das Land endlich durchgreifend reformieren wollen; dort hartnäckige Vertreter des Ancien Régimes, die das seit den frühen Tagen der Demokratie bestehende System, nämlich das des Ausverkaufs des Landes, aufrechterhalten wollen. Dabei hatten die Bulgaren im Protestsommer 2020 klar zum Ausdruck gebracht, dass sie endlich ihr Land voranbringen wollen. Ein „Weiter so!“ – wie in all den Jahren zuvor unter dem Langzeit-Ministerpräsidenten Borissov und seiner Clique – sollte und dürfte es nach dem Willen der abertausenden Menschen auf den Straßen nicht mehr geben.
Doch die Wahlergebnisse, die Arithmetik im Parlament sowie die tiefe Abneigung zwischen den politischen Führern haben einer stabilen und mehrheitsfähigen Regierung seitdem im Wege gestanden – die Euphorie und Aufbruchsstimmung ist längst einer politischen Lethargie und Frustration gewichen. Eine mit Ach und Krach gebildete Regierungskoalition unter der Führung des Reformers Petkov musste im vergangenen Juni nach nur sechs Monaten das Handtuch schmeißen, nachdem die Koalition aufgrund der Starallüren des Schlagersängers Trifonov zuvor ihre Mehrheit im Parlament verloren hatte.
Umfragen sagen schwere bis unmögliche Regierungsbildung voraus
Jetzt heißt es für die Bulgaren wieder von vorne beginnen. Die Umfragen verheißen jedoch nichts Gutes: Ex-Ministerpräsident Borissov, der das Land mit Unterbrechungen mehr als zehn Jahre lang regiert hat, liegt mit seiner konservativen GERB klar in Führung. Viele Experten hatten Borissov nach seiner Abwahl längst abgeschrieben und in der Abstellkammer der bulgarischen Politik verordnet. Doch der ehemalige Bodyguard zeigt immer wieder, dass er ein Stehaufmännchen ist, das man nicht so schnell loswird. Borissov wird es jedoch nicht einfach haben, einen oder gar mehrere Partner für eine mehrheitsfähige Koalition unter seiner Führung zu finden – dafür hat er in der Vergangenheit zu viel Porzellan zerschlagen.
Doch auch für Petkov und seine Start-Up Partei Wir setzen den Wandel fort (PP) sieht es nicht unbedingt besser aus. PP liegt in den Umfragen gleich hinter GERB, doch unter den übrigen Parteien kann Petkov sich eigentlich nur auf die ebenfalls liberale Partei Demokratisches Bulgarien verlassen, mit der er bereits zuvor in guter Zusammenarbeit regiert hatte. Alle anderen Parteien, die möglicherweise ins Parlament einziehen, sind alles andere als verlässliche Partner – von einer werteorientierten Kooperation ganz zu schweigen.
Während der Partei der türkischen Minderheit DPS nachgesagt wird, ein elementarer Bestandteil des hiesigen Klientelismus zu sein, sind die sozialistische BSP und die rechtsextreme Vazhrazhdane klar pro-russisch – beide Parteien haben Andeutungen gemacht, wonach sie die Pseudo-Referenden in den von Russland besetzten Gebieten im Osten der Ukraine anerkennen könnten. Mit der BSP hatte es bereits in der kurzzeitigen Regierung aufgrund der Politik gegenüber dem Kreml mehrmals gekriselt. Auch laut Experten hat sich Trifonov mit seinen Eskapaden in der jüngsten Vergangenheit als Partner langfristig disqualifiziert.
Bulgarien steht vor großen Herausforderungen
Dabei steht Bulgarien ein harter Winter bevor und bräuchte eine funktionierende und mehrheitsfähige Regierung in diesen unsicheren Zeiten der Geopolitik mehr denn je. Energiekrise, eine Inflationsrate von knapp 18%, eine mögliche Eskalation des russischen Angriffskrieges in der Ukraine, die Einflussnahme und Unterwanderungsversuche seitens des Kremls in Bulgarien, Aufnahme des Landes in die Eurozone in 2024 und ein Wiedererstarken der Covid-Pandemie – das sind nur einige von zahlreichen Herausforderungen, die Bulgarien entschlossen angehen müsste.
Vielleicht liegt es an den vielen Wahlen, die in den vergangenen zwei Jahren stattgefunden haben – es gibt keine lebhafte Diskussion zwischen den Parteien, die wirklich wichtigen Themen werden ausgeklammert, der Wahlkampf ist einfach gesagt langweilig. Eine mögliche Erklärung für den temperamentlosen und widerwilligen Auftritt der Parteien liegt darin, dass niemand im bevorstehenden ungemütlichen Winter mit möglichen Energiekürzungen den Hut in den Ring schmeißen möchte. Eine abermalige Überbrückung von mehreren Monaten mit einer Interimsregierung bevor es im Frühjahr abermals an die Urnen geht, wäre eine erprobte Formel. Die Bulgaren sind ja daran gewöhnt – Volkssport eben.