Internationaler Tag für das Recht auf Wahrheit
Wahrheit ist der Feind der Autokraten
Der 24. März ist der Internationale Tag für das Recht auf Wahrheit. Anlass zu fragen, was Wahrheit für die Opfer von Verbrechen, für unsere Gesellschaft und für die Demokratie bedeutet.
Für Opfer schwerster Menschenrechtsverbrechen hat Wahrheit oft einen existentiellen Wert, der über ihr zukünftiges Leben entscheidet. Wenn man selbst Leid erfahren hat, wenn die eigenen Angehörigen ermordet wurden oder verschwunden sind und niemand Auskunft über ihr Schicksal geben kann oder will, wird Wahrheit zu einer Gerechtigkeitsfrage. Wahrheit bestimmt den gesellschaftlichen Aussöhnungsprozess und Frieden.
Wahrheit für Opfer schwerster Menschenrechtsverbrechen
Was ist tatsächlich passiert als 2014 in Mexiko 43 Studenten gekidnappt und ermordet wurden? Auch sechs Jahre später haben die Angehörigen keine Gewissheit. Sie kennen die Wahrheit über die Verbrechen und die Täter nicht. Die Leichen ihrer Kinder sind nicht gefunden worden. Es kann an keinem Grab getrauert werden. Unmittelbar nach der Tat waren Ermittlungsergebnisse präsentiert, korrupte Polizeibeamte und Mitglieder der organisierten Kriminalität beschuldigt und verhaftet worden. Ohne Gerichtsverhandlung mussten die mutmaßlichen Drahtzieher jedoch wieder entlassen werden. Die Geständnisse waren teilweise unter Folter entstanden. Jetzt haben die Eltern ein Ultimatum an den mexikanischen Präsidenten Andrés Manuel López Obrador gerichtet: Bis Ende 2020 wollen sie endlich die Wahrheit erfahren.
Menschenrecht auf Wahrheit für Opfer
Dass Opfer von derartigen Verbrechen ein Recht auf Wahrheit haben, akzeptiert die internationale Staatengemeinschaft. Jede Person, die selbst Gräueltaten erlitten hat, hat das unveräußerliche Recht zu erfahren, wer dafür verantwortlich ist. Jede Gesellschaft, in der Verbrechen stattgefunden haben, hat das Recht, die Wahrheit ohne Lügen oder Leugnen zu kennen. Regierungen sind verpflichtet, das Recht auf Wahrheit für Opfer durchzusetzen.
Wahrheit ist der Gegenspieler der Desinformation
Das Menschenrecht auf Wahrheit gilt im Internet nicht. Und doch ist Wahrheit im Zeitalter der Desinformationen existentiell für offene und demokratische Gesellschaften: Täglich werden wir mit Unwahrheiten über Covid-19 bombardiert, werden im Netz extremistische und wissenschaftsfeindliche Verschwörungstheorien verbreitet. Falsche Zahlen und Daten verbreiten sich im Internet blitzschnell, sie sind den wahren Fakten und Tatsachen meist voraus. Was aber ist Propaganda? Was ist Fälschung? Bei all den Informationen im Internet können wir heute nicht mehr erkennen, ob sie faktenbasiert sind. Desinformationen zu kreieren oder Fakten technologisch zu verfälschen ist kinderleicht.
Wahrheit ist nicht einfach so da, sie ist nicht selbst gegeben, sondern setzt ein Aktivwerden voraus. Sie muss in einem Prozess der Prüfung erkundet und untermauert werden. Die Richtigkeit von Informationen lässt sich regelmäßig nur mit dem Urheber der Quelle überprüfen. Dazu braucht es Menschen, die die Wahrheit professionell ermitteln und die präsentierten Fakten auf ihren Wahrheitsgehalt kontrollieren.
Berufliche Wahrheitssucher
Neue Ereignisse und zeitgeschichtliche Umbrüche bringen auch neue Wahrheitssucher hervor. In Zeiten von Corona sind es Virologen. Den Klimawandel analysieren und erforschen Klimaforscherinnen und Forscher. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zählen in demokratischen Gesellschaften neben Richterinnen und Richtern sowie Journalistinnen und Journalisten zu der etablierten Berufsgruppe der Wahrheitssucher. Sie eruieren die Form von Wahrheit, die Hannah Arendt anschaulich „Tatsachenwahrheit“ nannte.
Die Tatsachenwahrheit basiert auf verifizierten Fakten, die je nach Berufszweig wissenschaftliche Erkenntnisse, justizielle Beweise oder qualitative Rechercheergebnisse sind. Im justiziellen Kontext muss die eine Wahrheit stets erkenntnistheoretisch fundiert werden. Bewertet wird die Gesamtheit der vorhandenen Beweise wie Zeugenaussagen, Urkunden oder Sachbelege. Qualitativer Journalismus stützt Wahrheit auf Recherche, die sich an objektiven Informationen orientiert. Diese Form von Journalismus ist unabdingbar, um den Bürgerinnen und Bürgern eine Meinungsbildung zu ermöglichen. Fakten und Wahrheit müssen in einen Kontext gebracht werden, um ihre Richtigkeit zu verifizieren. Interpretationen der so ermittelten Wahrheit in der stilistischen Form von Meinungskommentaren sind allerdings journalistische Freiheiten, die die anderen beiden, an wissenschaftlichen und rechtlichen Standards orientierten Berufsgruppen freilich nicht haben.
Wahrheit ist der Feind von Autokraten
Die Wahrheit kommt nicht ans Tageslicht, sobald die beruflichen Wahrheitssucher bedroht werden und ihre Tätigkeiten nicht unabhängig ausüben können. Ohne den Kontrollprozess durch sie ist die Demokratie in Gefahr. Demokratische Grundwerte sind gefährdet, sobald die Wahrheit manipuliert wird. Autokraten erklären Journalistinnen und Journalisten gerade deshalb zum Feindbild, um ihnen die Wahrheitshoheit zu nehmen. Ein Präsident Duterte erzeugt auf den Philippinen „alternative“ Fakten. Dazu gehört, dass er Journalisten und Journalistinnen, wie die Chefin des Nachrichtenportals Rappler, Maria Ressa, verstummen lassen will. Der Rechtsstaat ist ausgehebelt, sobald Richterinnen und Richtern die Unabhängigkeit ihrer Entscheidungskraft abgesprochen wird. Die wissenschaftliche Wahrheit erodiert, wenn Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an ihrer Berufsausübung gehindert werden, weil sie keine Regierungstreue schwören wollen.
Die massiven Angriffe auf Wahrheit sind in vielen Ländern demokratiegefährdend. Befriedigende Antworten auf die Manipulation der Wahrheit durch Demokratiegegner gibt es bislang nicht. Wir müssen sie aber finden, um unsere Werte, um Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte zu bewahren.