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Türkei Bulletin
Auf Talfahrt – Neue Tiefststände der türkischen Lira und kein Ende in Sicht

Türkei Währung
© picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Emrah Gurel  

Nachdem der Wechselkurs der türkischen Lira für einen Euro über weite Strecken des Sommers zwischen 7,70 und 7,90 schwankte, sprang der Kurs Anfang August schlagartig und in wenigen Tagen um zehn Prozentpunkte – und liegt nun zwischen 8,50 und 8,80. Die Abwertung der türkischen Währung liegt nicht im internationalen Trend, denn die Währungen anderer Schwellenländer blieben stabil. Die Frage stellt sich mithin, ob mit weiteren Wertverluste der Lira zu rechnen ist. Oder wird sich die Lira auf dem jetzigen Niveau stabilisieren, oder gar an Wert gewinnen. Die Zentralbank hat den Lira-Kurs bis August künstlich tief gehalten, indem sie 65 Milliarden Dollar in den Kauf der eigenen Währung investiert hat. Das hat dazu geführt, dass die Netto-Reserven der Zentralbank ins Minus geraten sind, wenn wir in dieser Rechnung die Devisen, die sich die Zentralbank von privaten Instituten geliehen hat, berücksichtigen. Vermutlich ist im August bei der Zentralbank die Einsicht gereift, dass es nicht möglich ist, immer mehr Geld für Stützungskäufe zu verbrennen – und es womöglich an der Zeit sei, die Kursgestaltung den Kräften des Marktes zu überlassen. Doch die Frage drängt sich auf: Was genau ist der Marktwert der Lira? Und wie wird dieser bestimmt?

Ökonomen berechnen den „fairen Wert“ einer Währung mit statistischen Modellen. Die Deutsche Bank und das Internationale Finanzinstitut haben kürzlich ermittelt, dass ein fairer Wechselkurs für die Lira zum Dollar zwischen 7,30 und 7,50 liege. Der Internationale Währungsfonds (IWF) war im vergangenen Jahr zu einem ähnlichen Ergebnis gekommen.

Doch was passiert, wenn Panik um sich greift? Und die Menschen die Lira aus politischen oder wirtschaftlichen Gründen verkaufen? Dann würde die Talfahrt der Währung kurzfristig beschleunigt und weit unter die Marke des „fairen Wertes“ fallen. Was könnte einen solchen Vorgang auslösen? Zum einen hält die türkische Bevölkerung zwischen 10 und 15 Milliarden „heißes“ Geld in ihren Händen. Ausländische Anleger sind ebenfalls in der Türkei investiert. Laut aktueller Zahlen haben sie im Juni dieses Jahres 1,5 Milliarden Dollar abgezogen. Aber entscheidend ist, dass die türkischen Haushalte 186 Milliarden US Dollar auf Devisenkonten angelegt haben. Sollten sie – aus welchem Grund auch immer – die Nerven verlieren und ihre Konten in großem Stil räumen, würden die Kurse von Dollar und Euro zur Lira in die Höhe schießen.

Die Statistik spricht ebenfalls nicht für die Lira. Der Ökonom Atilla Yesillada notiert, dass sich der Schuldendienst bis zum Ende dieses Jahres auf rund 12 Milliarden summieren wird. Auf Grundlage einer Refinanzierungsquote von 75 Prozent werden zwischen zehn und 12 Milliarden Dollar das Land verlassen. Analysten erwarten zudem, dass das Leistungsbilanzdefizit hoch bleiben wird und weitere zweistellige Milliardenbeträge in Dollar für die Refinanzierung nötig werden. Doch am Ende des Tages wird die Politik den Wert der Lira bestimmen. Wenn Präsident Erdogan der Zentralbank erlaubt, die Zinssätze zu erhöhen, wenn er den Finanzminister (und Schwiegersohn) Berat Albayrak sowie den Gouverneur der Zentralbank durch Menschen ersetzt, die das Vertrauen der Anleger genießen – ja, den IMF ins Haus holt, wenn sich die Lage weiter zuspitzt, dann kann der Kursverfall aufgehalten werden und die Lira zu einem Kurs von diesem Frühling zurückkehren. Sollte all dies nicht passieren, will ich nicht ausschließen, dass der Kurs ins Zweistellige entgleitet. Eine solche Entwicklung würde die türkische Wirtschaft verwüsten! Also, was wird der Präsident tun?

Zum einen: Höhere Zinsen und der IWF sind für Erdogan „tödliche Sünden“. Der Präsident steht zudem zu einhundert Prozent hinter Finanzminister Albayrak und verteidigt diesen bei jeder Möglichkeit. Auf der anderen Seite wissen wir, dass der Präsident zu pragmatischen Kursänderungen durchaus in der Lage ist und auch zu radikalen Kehrtwenden in seiner Politik. Ein Beispiel ist der Fall des amerikanischen Pfarrers Brunson. Nachdem Erdogan zunächst verlangt hatte, den unter Terrorismusvorwürfen eingesperrten Geistlichen nur dann freizugeben, wenn Washington zuvor den als Strippenzieher des gescheiterten Putschversuches vom Juli 2016 bezichtigten und in den USA lebenden Fetullah Gülen ausliefere, lies er diese Forderung schnell fallen, nachdem die Drohungen Donald Trumps via Twitter zu einem 50%igen Kursverfall der Lira geführt hatten. Also in Kürze: Wenn Sie wirklich wissen wollen, wie sich der Kurs der Lira in Zukunft entwickeln wird, ist es besser, sie versuchen Präsident Erdogan zu verstehen als die türkische Volkswirtschaft.