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Europa
Die junge Generation wird Europa prägen

Nora Bossong wünscht sich ein neues Narrativ für Europa
Bossong

Die Schriftstellerin Nora Bossong wünscht sich ein neues Narrativ für Europa.

© liberal

Wie steht es um Europa heute? Man kann eine Geschichte davon erzählen, und das wird derzeit viel und gern getan: Wie die Union – und en gros die Welt – immer weiter auseinanderbricht, die Gräben tiefer werden in unserer und in den uns umgebenden Gesellschaften. Man kann aber auch eine Geschichte davon erzählen, wie die Welt zusammenwächst. Beide Erzählungen sind in gewissem Sinne richtig, aber sie schließen sich nicht aus. Die Art und Weise, in der die Welt zusammenwächst, kann man nur mitbestimmen, wenn man Verantwortung übernehmen kann. Ergo: Wenn man Gewicht hat in einer Welt, deren Machtsphären sich verlagert haben.

Was ist das Einigende an der europäischen Idee? Es ist nach wie vor das zentrale Versprechen, dass Frieden haltbar sein kann. Ein Versprechen, das, blickt man sich in der Weltgeschichte um, so ausnehmend unwahrscheinlich erscheint. „Die Versöhnung eines zerstörten Kontinents durch ein einzigartiges Projekt für Frieden, Wohlstand und Freiheit“, so hat es Emmanuel Macron Anfang März genannt. Dass dieses Versprechen nur all jene zu schätzen wüssten, die einen Krieg selbst erlebt haben, wie man mitunter hört, scheint mir ausnehmend unsinnig zu sein. Was man einmal an Sicherheit erlebt hat, will man nicht verlieren – und man muss keinen Krieg erlebt haben, damit einem der Frieden am Herzen liegt.

Es geht im Engagement für Europa nicht darum, die Welt mit einer neuerlichen westlichen Vorherrschaft zu überrollen. Es geht darum, für jene Ideen einzutreten, die mit Rechtsstaatlichkeit, Meinungsfreiheit, Friedenserhalt, mit der Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie mit Menschen unterschiedlicher Herkünfte, Religionen und Lebensausrichtungen verbunden sind. Man mag darüber streiten, inwiefern die allgemeinen Menschenrechte, die das Individuelle gegenüber dem Kollektiven betonen, eher westlichen als globalen Idealen entsprechen. Wie auch immer man sich in diesem Disput positioniert: Ich bin davon überzeugt, dass es sich für diese Form des Individualismus einzutreten lohnt – auch, wenn es im Ursprung eine westliche Idee ist. 

Scheitern muss man lernen

Die demokratische Legitimation der Europäischen Union muss weiter ausgebaut werden, und es muss zudem darauf geachtet werden, dass dieses Europa, in dem wir leben, auch noch für kommende Generationen funktioniert.

In Fragen der sozialen Absicherungen wird mitunter gewirtschaftet, als gäbe es kein Morgen mehr. Allenfalls das Morgen der nächsten Wahl, an dem man einer immer größer werdenden Ruhestandsklientel nach dem Mund geredet haben will. Die Verteilung zwischen den Generationen ist niemals vollkommen gerecht: So gab es die Babyboomer-Generation, und es gab all die Generationen, die in Europa Kriege erlebt haben. In Würde und ohne Armut alt zu werden, ist ebenso wichtig wie eine Jugend mit Perspektive und eine Arbeitstätigkeit mit fairen Chancen – aber eben auch nicht wichtiger. Perspektivlosigkeit macht junge Menschen nicht zwingend unmündig, sie ist allerdings ein guter Nährboden für Frustration und Radikalisierung. Die Lösungen sollten früher ansetzen als in dem Moment, in dem die negativen Folgen bekämpft werden müssen.

Man sollte bei allem nicht vergessen, dass in dem großen Geburtenlotto die allermeisten Menschen, die in Europa geboren wurden, bereits gewonnen haben. Europa ist eine der privilegiertesten Weltgegenden, dies sollte niemand außer Acht lassen – gerade wenn es um Zweifel, Zaudern und schließlich um die Angst geht. Es besteht die Möglichkeit, dass Europa oder die Europäische Union scheitern. Sie schließt aber immer auch die Möglichkeit ein, dass es gelingt. Und wenn es nicht beim ersten Mal zur vollen Zufriedenheit glückt, kann man aus Scheitern lernen, es beim zweiten Mal besser machen und beim dritten Mal vielleicht so gut machen, dass es tatsächlich überzeugt. Angst existiert ja auch jenseits populistischer Instrumentalisierung – auch auf der Seite derer, die sich ein vereintes Europa wünschen, aber deren Pessimismus die Dimension des konstruktiven Zweifelns schon überstiegen hat und sich bereits einer Depression nähert. 

Ist die junge Generation auch eine stärker europäische Generation als jene vor ihr, so ist sie doch keine Generation, die das Scheitern gut gelernt hätte. Immer ging der Blick nach oben, die Sicherheit und der Wohlstand sollten mit jeder Generation weiter wachsen. Dass dieses Versprechen so nicht mehr verlässlich, jedenfalls nicht selbstverständlich ist – ob sich dies nun in der unbefristeten Festanstellung, der Rente oder der Umwelt zeigt –, kann uns entweder verzagt machen oder aber dazu bringen, neu über etwas nachzudenken und zu verhandeln.

Wenn man über Menschen meines Alters spricht, ist oft die Rede von der Erbengeneration. Was das private Vermögen anbelangt, mag das bei dem einen stimmen, bei der anderen ganz und gar nicht. Doch wir sind in dem Sinn eine Erbengeneration, in dem wir dieses Projekt namens EU geerbt haben. Zu erwarten, dass das, was man erbt, perfekt sei, wäre vermessen, und zu meinen, dass man dem, was man erbt, keine Verantwortung entgegenzubringen habe, wäre bequem. Wenn man etwas erneuern will, knirscht und knackt es manchmal. Das heißt aber nicht zwingend, dass etwas zerbricht. Es heißt möglicherweise nur, dass sich etwas bewegt, was lange eingerostet war.

Identifikationspunkt der Jugend

Europa und auch die EU sind allen Abgesängen zum Trotz Identifikationspunkt für viele junge Menschen, und als solcher positiv konnotiert – das, worin man leben, das, wofür man sich engagieren will. Ein schwaches Europa aber ist ein Europa auf Raten, und Raten meint: Es geht auf Raten aus. Es ist keines, das man für die nächste oder gar übernächste Generation aufbaut oder bewahrt. Ein starkes Europa hingegen hätte nicht nur Gehör und Gestaltungsmöglichkeiten, es besäße auch Strahlkraft. Das wäre etwas anderes als die koloniale, hegemoniale, militaristische Vergangenheit, in der von Europa aus mit Aggression Gebietsgewinne errungen und Ausbeutungsstrukturen gelegt wurden. 

Es würde bedeuten, dass es sich in eben jenen Punkten adaptieren ließe, in denen es sich für andere Regionen, Länder, Kontinente eignete. Welche Geschichte man auch von Europa erzählen will: Klar ist, dass sie von einschneidenden Veränderungen handelt – und diesen können wir nur zusammen und im europäischen und globalen Dialog begegnen. 

 

Nora Bossong (*1982 in Bremen) ist eine deutsche Autorin. Mit ihren von der Kritik gefeierten Romanen und Gedichtbänden ist sie bereits in jungen Jahren in der Spitzenklasse deutscher Autorinnen angekommen. Ein Thema, dem Bossong sich regelmäßig widmet, ist die Zukunft Europas. So verfasste sie Aufrufe an die jüngeren Generationen, sich aktiver für Europa zu engagieren, und schrieb Gedichte und Erzählungen über Europa. Im August erscheint ihr neuer Roman „Schutzzone“ im Suhrkamp Verlag.