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Wahlen in Lettland
Großer Erfolg für das liberale Wahlbündnis

Regierungsbildung in Lettland wird sich hinziehen
Neue liberale Partei mit guten Chancen auf Parlamentseinzug
Das lettische Parlament, die sogenannte Saeima © Saeima/ CC BY-SA 2.0 commons.wikimedia

Die enttäuschte lettische Wählerschaft erteilte den traditionell regierenden Parteien bei den Parlamentswahlen am 7. Oktober eine klare Absage. Entstanden ist eine neue Parteilandschaft, in der Populisten, Konservative und Liberale Chancen auf die Regierungsbildung haben. Eines steht aber jetzt schon fest: Diese Regierungsbildung wird sich wohl hinziehen.

Nach der Auszählung aller Stimmen ist es jetzt klar, wie Lettland bei den Wahlen zum nationalen Parlament (Saeima) am Sonntag abgestimmt hat:  Trotz deutlicher Verluste blieb die prorussische Partei „Harmonie“ mit 19 Prozent der abgegebenen Stimmen stärkste Kraft, gefolgt von der Partei „Wem gehört der Staat?“ (KPV LV) mit 14,3 Prozent und der Neuen Konservativen Partei (JKP) mit 13,6 Prozent der Stimmen. Das liberale Bündnis „Für die Entwicklung/Dafür!“ (Attīstībai/Par!) erreichte 12 Prozent; die rechtsgerichtete nationalistische „Nationalen Allianz“ (NA) konnte 11 Prozent Stimmanteil auf sich vereinen. Die konservative „Union der Grünen und Bauern“ (ZZS) zieht mit 9,9 Prozent und die Partei „Neue Einheit“ mit 6,7 Prozent der Stimmen ins Parlament.

Interessant bei dieser Wahl ist auch, dass etwa ein Zehntel der Wähler für Parteien stimmten, die es aufgrund der Fünf-Prozent-Hürde nicht ins Parlament schafften. Das ist doppelt viel wie bei der letzten Saeima-Wahl. Die Parlamentswahl war durch den Vormarsch neuer, wenig bekannter Parteien mit sehr unterschiedlichen Parteiprogrammen gekennzeichnet. Die bisherige Regierungskoalition (ZZS, NA, Einheit) verlor ihre Mehrheit und neue Parteien eroberten rund 40 Prozent der Stimmen, weil die politikverdrossene Wählerschaft von den bekannten und dienstälteren Gesichtern der lettischen Politszene in hohem Maße desillusioniert war. Damit sind sieben Parteien im lettischen Parlament vertreten. Zum Vergleich: Bei der Wahl zur 12. Saeima schafften es sechs Parteien ins Parlament.

Großer Erfolg für das liberale Wahlbündnis

Es ist das erste Mal in der modernen lettischen Geschichte, dass ein Wahlbündnis mit offenen liberalen Werten und Programmen in die Saeima gewählt wurde. Das aus drei Parteien bestehende Bündnis – Latvijas Attīstībai, Kustība Par! und Izaugsme – hat bei den nationalen Wahlen 12,04 Prozent der Stimmen erhalten und damit das viertbeste Ergebnis erzielt. Die Partei hat in vielen Regionen, einschließlich der größeren Region Riga – Pierīga, gewonnen und die meisten Stimmen in mehreren ausländischen Wahlzentren erhalten, zum Beispiel in New York City, Brüssel, Rom, Mailand, Berlin, Abu Dabi, Vancouver und vielen anderen.

Jelena Jesajana, Vorstandsmitglied der Partei Latvijas Attīstībai und Geschäftsführerin des parteinahen Thinktanks Latvijas Nakotnes Forums erklärt die Wahlergebnisse mit diesen Worten: „Wir sehen, dass viele junge qualifizierte Fachleute unsere Ideen und programmatische Ansichten über die Zukunft des Landes unterstützen. Obwohl die prorussische Partei Harmonie wieder stärkste Kraft ist, sind ihre Ergebnisse die schlechtesten seit den letzten drei Wahlen, was zeigt, dass ihre Politik in der Stadt Riga an Attraktivität verloren hat. Auf dem zweiten und dritten Platz landeten die neuen Parteien; die konservative JKP und die populistische KPV LV, was einmal mehr die starke Unterstützung für eine neue politische Generation verdeutlicht, die bei der Koalitionsbildung definitiv berücksichtigt werden wird."

In Lettland stehen schwierige Regierungsverhandlungen an

Die prorussische Partei Harmonie blieb zwar mit 19 Prozent stärkste Kraft, weil sie die große russischen Minderheit (27 Prozent) im Land hinter sich zu vereinen weiß. Eine Regierungsbeteiligung ist für die Partei aber kaum in Sicht, da die anderen Parteien aufgrund der engen Beziehungen von Harmonie zu Moskau  eine Zusammenarbeit ausschließen.

Harmonie hat vor Kurzem zwar versucht, sich als eine sozialdemokratische Partei im westlichen Stil darzustellen, die sich der Europäischen Union und der NATO verpflichtet fühlt. Jedoch beendete sie erst letztes Jahr ihr Kooperationsabkommen mit der Partei „Einiges Russland”, die den Kurs von Wladimir Putin unterstützt, was Befürchtungen nährte, das neue Image der Partei sei nur eine oberflächliche Korrektur des Kurses.

Die meisten anderen Parteien sind entschlossen, prorussische Kräfte von der Macht fernzuhalten und gleichzeitig immer engere Beziehungen zum Westen zu suchen. Nur die zweitplatzierte populistische KPV LV und ihr Vorsitzender Artuss Kaimins, der in der Wahlkampagne auf der Welle des Kampfs gegen Eliteparteien und Korruption ritt, hat gegenüber der Partei Harmonie gemischte Signale ausgesendet, um sich so Optionen offenzuhalten.

Alle Beobachter erwarten lange und harte Verhandlungen über die Regierungsbildung, die sich über Monate erstrecken könnte. In der Zwischenzeit wird der Ministerpräsident Māris Kučinskis die Regierungsgeschäfte weiterhin kommissarisch leiten.

Eine Regierungskoalition mit KPV LV und der Partei Harmonie würde, nach Ansicht Kučinskis‘, eine ziemlich radikale Veränderung der Position Lettlands zur Europäischen Union und zu lettischen Sicherheitsfragen darstellen. Der KPV LV unterstützt nominell zwar die Mitgliedschaft Lettlands in der EU und der NATO, aber das vage Wahlprogramm lässt hier gefährlich viel Spielraum.

Auch wenn es zu einer Regierungskoalition zwischen der Harmonie und KPV LV kommen würde, sind die beiden Parteien trotzdem weit von einer Parlamentsmehrheit entfernt. Selbst mit der Union der Bauern und Grünen würde ein solches Bündnis gerade einmal 50 Sitze bekommen – zu wenig für eine Mehrheitsregierung.

Spekulation über zahlreiche Koalitionskombinationen

Daher wird nun über zahlreiche potentielle Koalitionskombinationen spekuliert. Eine davon ist  ein Vier-Parteien-Regierungsbündnis mit den neuen Konservativen, der Nationale Allianz, den Liberalen und der Union der Bauern und Grünen, die zusammen 53 Sitzen hätten. Dies ist aber wegen der deutlichen Programmunterschiede zwischen den Parteien nur schwer vorstellbar.  Wenn man zu der Konstellation noch die Neue Einheit hinzufügen würde, käme man zwar zu einer bequemeren Mehrheit von 61 Sitzen, würde aber gleichzeitig eine instabile und schwer kontrollierbare Regierung riskieren.

Zu der Position der Liberalen bei den bevorstehenden Koalitionsverhandlungen äußert sich Jelena Jesajana: „Attīstībai / Par! ist offen für Verhandlungen und hat bereits Gespräche mit JKP und KPV LV aufgenommen, aber wir sind auch offen für Gespräche mit anderen Parteien. Wir sind hauptsächlich daran interessiert, die Prioritäten unseres Programms durchzusetzen: eine offene Gesellschaft, Gesundheitsreform, Bildungsreform sowie Reform der Verwaltungsregionen. Dies sind die Kernthemen, die wir auf den Verhandlungstisch bringen werden. Wir erwarten, dass die Verhandlungen einige Zeit in Anspruch nehmen werden, da keine Partei einen erheblichen Vorteil gegenüber anderen erhalten hat."

Der Regierungsbildungsprozess wird in jeden Fall extrem langwierig sein. Mit einer neuen Regierung ist wahrscheinlich erst im nächsten Jahr zu rechnen.