Kein Frieden ohne palästinensische Einheit
Fatah und Hamas, die politischen Rivalen der palästinensischen Politik und Gesellschaft, haben den Prozess der „Versöhnung“ und der Machtteilung wiederaufgenommen. Am 2. Oktober 2017 tagte das Kabinett der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) erstmals seit drei Jahren wieder in Gaza, nachdem die Hamas im September 2017 erklärt hatte, die zivile Kontrolle des Gazastreifens mit seinen knapp 2 Mio. Einwohnern an die Fatah-geführte PA zurückgeben zu wollen. Ulrich Wacker beobachtet als Projektleiter der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit die Entwicklungen in Israel und in den palästinensischen Gebieten aus dem Stiftungsbüro in Jerusalem. Im Interview mit freiheit.org gibt er eine Einschätzung zu den jüngsten Entwicklungen.
Warum sollte uns die neuerliche Initiative zu einer Zusammenarbeit von Fatah und Hamas interessieren?
Die Palästinenser sind politisch tief gespalten: In der Westbank herrscht die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) der Fatah, in Gaza die Hamas. Das politische System ist seit den Jahren 2006-2007 blockiert, als aus den Wahlen zum Palästinensischen Legislativrat (PLC) eine Hamas-geführte Regierung hervorging, eine folgende Einheitsregierung in bewaffneten Kämpfen mit der unterlegenen Fatah von Präsident Abbas unterging, und Hamas den Gazastreifen unter ihre Kontrolle brachte. Seitdem haben keine Wahlen mehr stattgefunden, obwohl die Amtszeiten von Präsident und Parlament lange ausgelaufen sind. Das politische System und die Amtsträger haben schon lange keine Legitimation mehr. Eine Annäherung könnte in einen politischen Prozess mit Neuwahlen münden, die PA hätte dann wieder Autorität und ein demokratisches Gesicht, die derzeit doppelte, autoritäre Alleinherrschaft zweier Einheitsparteien, Fatah und Hamas, käme an ein Ende.
Es haben seit der Machübernahme der Hamas in Gaza 2007 schon mehrere solcher Verhandlungen stattgefunden, die allesamt gescheitert sind. Passiert da jetzt wirklich etwas Neues? Und warum nähern sich die beiden Kontrahenten gerade jetzt einander an?
Nachdem die Hamas in Gaza im März 2017 eine Art Schattenkabinett in Gegnerschaft zur PA etabliert hatte, begann Präsident Mahmoud Abbas, Druck auf die Hamas und die Bevölkerung von Gaza auszuüben. Er kürzte die Gehaltszahlungen von Bediensteten im öffentlichen Dienst, schickte weitere in den Ruhestand, kürzte die Zahlungen für den von Israel nach Gaza gelieferten Strom, beendete die Lieferung von Diesel an das Elektrizitätswerk Gazas und stellte Zahlungen der PA für die Behandlung Schwerkranker in Kliniken außerhalb Gazas ein. Das verschlechterte in Gaza die Lebensverhältnisse, die unzufriedene Bevölkerung demonstrierte, Hamas geriet unter großen Druck.
Veränderungen in den regionalen Konstellationen setzen Hamas zusätzlich unter Druck. Ohne potente Verbündete ist Hamas kaum lebensfähig. Ursprünglich gegründet als palästinensischer Ableger der ägyptischen Organisation der Muslimbrüder, ist die Hamas schon aus geographischen Gründen immer eng mit den Entwicklungen im Land am Nil verknüpft. Der seit Jahren erbittert geführte Kampf des Sisi-Regimes gegen die Muslimbrüder schloss die Blockade des Gazastreifens ein, um jede Form der Unterstützung für die Muslimbrüder oder die Terrorbande des Islamischen Staats, die auf dem angrenzenden Sinai ihr Unwesen treibt, zu verhindern. Damit war nicht nur die Zivilbevölkerung vom Waren- und Personenverkehr ausgeschlossen, sondern auch die Hamas von logistischem Nachschub aller Art.
Als ebenso bedeutsam erwies sich die zunehmende politische Isolation. Im syrischen Bürgerkrieg unterstützte die Hamas zunächst die Opposition gegen das Assad-Regime, in der die syrischen Muslimbrüder eine wichtige Rolle spielten. Damit setzte sie sich allerdings in Gegensatz zu ihren klassischen Verbündeten aus den Reihen der radikalen Israelfeinde Iran, die Hisbollah und selbstverständlich das Assad-Regime selbst. Seitdem hing die Hamas am Tropf Katars, das aber gegenwärtig selbst unter erheblichem Druck steht, seit Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate, Bahrein und Ägypten den kleinen, aber einflussreichen Golfstaat in die Knie zwingen wollen – nicht zuletzt wegen der katarischen Unterstützung für die Muslimbrüder. Versuche der Hamas, sich wieder Iran als Schutzmacht anzunähern, führen lediglich zu erneuten Spannungen mit den arabischen Golfstaaten, Ägypten und der Türkei.
Ägypten macht für die Wiederöffnung des Grenzübergangs Rafahs die Rückkehr zum Arrangement von 2005 zur Bedingung, das den Sicherheitskräften der PA die Grenzkontrolle übertrug. Für das Sisi-Regime ist die Kontrolle des Gazastreifens und von Rafah durch die PA aus Gründen der eigenen Sicherheit von großer Bedeutung, um das Einsickern des islamistischen Terrors auf den Sinai abzuwehren. Kairo spielt daher eine zentrale Rolle bei allen bisherigen und künftigen Sicherheitsarrangements in und um Gaza.
Präsident Abbas weiß, dass es zu Friedensgesprächen mit Israel erst wieder kommen kann, wenn er die ganze palästinensische Bevölkerung vertritt. Hierfür braucht er die innerpalästinensische Versöhnung und eine erneuerte demokratische Legitimation.
Interessant ist deshalb auch, dass Israel die aktuellen Schritte nicht erschwert und die Kabinettssitzung in Gaza ebenso ermöglichte, wie die Beteiligung und Durchreise des ägyptischen Geheimdienstchefs Khaled Fawzy, der die aktuellen Gespräche der Kontrahenten begleitet. Die USA verbanden ihr grünes Licht für die neue Initiative mit der Forderung, dass jede Vereinbarung die Anerkennung Israels enthalten müsse.
Was sind die Konfliktpunkte und Problemfelder in den anstehenden Verhandlungen zwischen Fatah und Hamas?
Es muss in Gaza der öffentliche Sektor wiederhergestellt werden, dessen Fatah-Mitarbeiter weniger Präsident Abbas als dessen Rivalen Dahlan anhängen. Es muss eine Beschäftigungsperspektive für Hamas-nahe Bedienstete geben, die bislang nicht von der PA bezahlt werden. Wobei es hier um Summen von bis zu 40-50 Mio. USD monatlich für eine PA geht, die hierfür auf externe Hilfe angewiesen wäre.
Während die Übergabe der zivilen Verwaltung in Gaza an die PA unstrittig ist, bergen die künftigen Kommandostrukturen der Sicherheitsdienste in Gaza Konfliktstoff. Präsident Abbas muss darauf bestehen, dass die Nationalen Sicherheitskräfte, die Preventive Security, Geheimdienste und Polizei, unter seinem Oberkommando stehen, und man erwartet, dass er 3.000 Leute der Präsidentengarde in Gaza stationieren wird. Da die Dienste in Gaza aber aus Hamas-nahen Kräften bestehen, kann man sich kaum vorstellen, dass eine bei der PA beginnende Befehlskette weit nach unten in das Reich der Loyalitäten gegenüber Hamas reichen würde.
Die PA wird, wie früher mit Hilfe der EU, die Grenzkontrollen nach Israel und Ägypten durchführen wollen, Hamas aber darauf bestehen, innerhalb Gazas mit eigenen Kräften selbst Kontrolle auszuüben. Damit würde Hamas zur Regierung innerhalb der Regierung, und das kann Abbas nicht dulden. Dessen Ablehnung einer Rolle der Hamas im Sicherheitsapparat hat er in die klare Formel gefasst: „I want one state, one rule and one gun“.
Ist eine Einigung für das Funktionieren der Sicherheitskräfte schon schwer genug, so halten es alle Beobachter für ausgeschlossen, dass Hamas seinen militärischen Arm, die Kassam-Brigaden, aufgeben und dem bewaffneten Kampf gegen Israel abschwören wird. Hier mögen Aussöhnung und Zusammenarbeit ihren Bruchpunkt finden. Denn die PA kann unkontrollierte Kassam-Brigaden, die jederzeit eine militärische Eskalation mit Israel entfachen können, nicht akzeptieren. Andererseits verlöre die Hamas durch den Verzicht auf ihren militärischen Arm nicht nur ihre Schlagkraft, sondern auch ihre Identität als kompromisslose, maximalistische Interessenvertretung der Palästinenser gegenüber Israel. Hamas wäre damit quasi auf dem Weg, Teil der PLO zu werden. Als Teil der PLO müsste Hamas aber das Existenzrecht des Staates Israel anerkennen und den bewaffneten Widerstand aufgeben. Und das kann ich mir nicht wirklich vorstellen, zumal Hamas in ihrem neuen Grundsatzpapier die Position bekräftigt, keinen Teil Palästinas aufzugeben. Gleichzeitig fordert sie aber einen palästinensischen Staat in den Grenzen vom Juni 1967. Das ist eine mehrdeutige Position, die Spielräume öffnen könnte.
Wenn wir jetzt einmal resümieren: Wie sehen Sie die Perspektiven für den Annäherungsprozess? Droht er zu scheitern wie frühere Versöhnungsinitiativen oder sind Sie optimistisch?
Die erste Gesprächsrunde endete enttäuschend: Präsident Abbas gibt sich erst einmal beinhart und bemüht den Libanon und das von staatlichen Institutionen ungehinderte Agieren der Hisbollah als Menetekel für Palästina. Abbas stellt nicht die Aufhebung der Restriktionen für den Gazastreifen in Aussicht, und er besteht auf der Entwaffnung der Kassam-Brigaden. Aber das ist natürlich nicht das letzte Wort.
Wenn Hamas die Kontrolle über Gaza verliert, dann verliert sie ihre Machtbasis, deshalb wird sie keine grundsätzlichen ideologischen Kompromisse machen und schon gar nicht ihre militärische Machtbasis aufgeben. Präsident Abbas, der ohne Parlament mit präsidentiellen Dekreten regiert, kann in einer Versöhnung machtpolitisch nur verlieren, denn er wird den Legislativrat wieder einberufen und neu wählen lassen müssen, der dann Abbas‘ derzeit unbeschränkte Macht gesetzgeberisch bändigen wird.
Das alles stimmt pessimistisch. Aber: die USA und Israel haben offenkundig grünes Licht für den Prozess der Annäherung gegeben. Gleichzeitig dürfen wir annehmen, dass die Arabische Welt und die internationale Gemeinschaft diese Initiative unterstützen.
In der palästinensischen Bevölkerung ist eine starke öffentliche Unterstützung für den Dialog zu spüren, nachdem die Auseinandersetzungen der Fraktionen, aber auch der Hamas mit Israel die Notwendigkeit einer Veränderung und Einigung deutlich gemacht haben. Die Bevölkerung will Lebensperspektiven.
Dass Ägypten in eine aktive Rolle zurückkehrt, entspringt nicht nur dem geschilderten Sicherheitsinteresse, sondern auch dem Streben Kairos nach einer stärkeren Rolle als Regionalmacht und der Neutralisierung des Einflusses von Katar und der Türkei in Gaza. Das lässt uns ein fortdauerndes Engagement erwarten und ist ein wesentlicher, positiver Faktor, zumal wenn Ägypten seine Rolle mit Israel abstimmt.
„Wer im Nahen Osten nicht an Wunder glaubt, der ist kein Realist“ heißt ein schon ziemlich überstrapaziertes Bonmot. Auch wenn beide Seiten in einer Zusammenarbeit Positionen der letzten 10 Jahre räumen müssten, so sollten ihre Interessen ihr Handeln leiten: Die Bevölkerungen von Westbank und Gaza drohen sich gegen ihre Führungen zu kehren, in deren Blockade schwindet die Perspektive palästinensischer Staatlichkeit, und Ägypten drängt. Ein Versöhnungsprozess, der zu Wahlen führt, verspricht Fatah und Hamas gleichermaßen die politische Legitimation, die sie brauchen, um ihre Macht zu erhalten. Deshalb dürfen wir verhalten optimistisch sein, dass die Akteure sich für eine Weile zusammenraufen werden.
Ulrich Wacker ist Projektleiter der Stiftung für die Freiheit für Israel und die palästinensischen Autonomiegebiete.