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Hans-Dietrich Genscher – Architekt der Einheit
Zum Tag der deutschen Einheit erinnert die Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit an Leben und Werk des womöglich einflussreichsten liberalen Außenpolitikers des 20. Jahrhundert. In seinem langjährigen Wirken war Hans-Dietrich Genscher maßgeblich an der Erarbeitung des „2+4-Vertrages“ und der „Charta von Paris“ beteiligt.
Jugend in Halle-Reideburg
Es war Hans-Dietrich Genscher keineswegs in die Wiege gelegt, dass er einmal zu den wichtigsten Staatsmännern der Weltpolitik gehören würde, als er am 21. März 1927 nahe Halle geboren wurde. Seinen Vater, Syndikus eines Agrarverbandes, verlor er bereits im Alter von 10 Jahren und wuchs dann hauptsächlich in der bäuerlichen Idylle Reideburgs auf, woher seine Mutter stammte. Den Weg zum Abitur auf einer Hallenser Oberschule verbaute zunächst der Einsatz als Flakhelfer und dann der Wehrdienst, bei dem Genscher mit Glück den verlustreichen Endkampf um Berlin überlebte. 1946 konnte er schließlich in Halle die Hochschulreife erwerben, woran sich ein Jura- Studium dort und dann im benachbarten Leipzig anschloss. Bereits 1949 absolvierte er das Erste Juristische Examen und ließ danach in Leipzig das Referendariat folgen.
Erste politische Schritte von Genscher
Die Chancen zu einer neuen Freiheit, die 1945 auch in Mitteldeutschland möglich schien, wollte Hans-Dietrich Genscher nicht ungenutzt verstreichen lassen. So trat er bereits Anfang 1946 in die LDP, die liberale Partei in der sowjetischen Besatzungszone ein. Ihn überzeugte deren Leitsatz „Liberalismus ist die umfassende Alternative zu allen Formen der Unfreiheit“. Doch ein nachhaltigeres Engagement verhinderte zunächst eine langwierige Erkrankung.
Dies war möglicherweise ein glücklicher Umstand: Die jungen Mitglieder in der LDP waren die vorwärtstreibenden Kräfte und deshalb besonders der Repression ausgesetzt, mit der die SED ihren Herrschaftsanspruch durchsetzte. Prominente liberale Nachwuchspolitiker wie der Leipziger Studentenführer Wolfgang Natonek wurden gnadenlos verfolgt, zum Teil auch wie der Rostocker Jungliberale Arno Esch zum Tode verurteilt und hingerichtet. Hans-Dietrich Genscher wollte diese neuerliche Unfreiheit nicht ertragen und floh noch während des Referendariats im Sommer 1952 in die Bundesrepublik. Die Jugendjahre in Mitteldeutschland hatten ihn in zweifacher Hinsicht stark geprägt: Er blieb seiner Heimat auch in der Ferne tief verbunden, suchte sie später immer wieder auf und gab die Hoffnung auf eine zukünftige Wiedervereinigung mit dem Westen niemals auf. Zugleich hatte ihn die doppelte Diktaturerfahrung, erst durch den Nationalsozialismus, dann durch den Sozialismus, sehr sensibel für die Bedeutung der individuellen Freiheit und ihre mögliche Bedrohung gemacht.
Tatsächlich war die LDPD in Halle diejenige Partei, die die deutlichste Sprache gegenüber dem Machtanspruch der Kommunisten führte.
Genschers Neuanfang im freien Westen
Im Westen war Genscher einer der vielen mittellosen DDR-Flüchtlinge, die die Bundesrepublik in den 1950er Jahren integrieren musste. In Bremen konnte er seine Ausbildung fortsetzen, die er Anfang 1954 mit dem Zweiten Juristischen Examen beendete. Seinen politischen Prinzipien war er treu geblieben und hatte unmittelbar nach der Übersiedlung um Aufnahme in die FDP ersucht. Von deren Zentrale wurde ihm 1956 ein Angebot unterbreitet, Referent der FDP-Bundestagsfraktion zu werden. Der Wechsel nach Bonn war nicht ohne Risiko, denn die FDP befand sich nach der Abspaltung ihres „Ministerflügels“ als nunmehrige kleine Oppositionspartei gerade in einer Krisensituation. Zum anderen war Genschers Gesundheit weiterhin stark angegriffen. Seine Zähigkeit, aber auch der persönliche Rückhalt durch den Parteivorsitzenden Thomas Dehler, der als überzeugter Rechtsstaatsverfechter Genschers großes politisches Vorbild wurde, überwanden dieses Problem. So konnte Genscher schnell seine Fähigkeiten unter Beweis stellen, nachdem die FDP 1957 trotz der Abspaltung im Vorjahr wieder in den Bundestag zurückgekehrt war.
Der Mann im Hintergrund
Auch mit Dehlers Nachfolger an der Parteispitze, dem Altministerpräsidenten Reinhold Maier, arbeitete Genscher gut zusammen. Dieser machte ihn 1959 zunächst zum Geschäftsführer der Bundestagsfraktion, einer zentralen Stelle für die Koordination der parlamentarischen Arbeit. Als Karl- Hermann Flach nach dem großen, aber auch schwierigen Wahlerfolg von 1961 wegen inhaltlicher Differenzen über den künftigen Kurs wieder in den Journalismus zurückkehr- te, übernahm Genscher 1962 zusätzlich dessen Funktion als Bundesgeschäftsführer.
Viele innerparteiliche Fäden liefen seitdem bei ihm zusammen. Genscher traute sich aber durchaus mehr zu, als bloß eine „Graue Eminenz“ im Hintergrund zu sein; auch andere hatten sein Talent erkannt: So vermittelte ihm der NRW-Landesvorsitzende Willi Weyer für die Bundestagswahl 1965 einen Wahlkreis in Wuppertal. Diesen gewann er zwar nicht. Über die nordrhein-westfälische Landesliste zog er dennoch in den Deutschen Bundestag ein, dem er dann über drei Jahrzehnte bis zum Umzug nach Berlin angehören sollte. Auch seinem Wuppertaler Wahlkreis blieb er stets treu und erzielte dort später häufig überdurchschnittliche Ergebnisse
Der Parlamentarische Geschäftsführer hat – vorausgesetzt, er will es – eine Schlüsselstellung in der Fraktion, und diesen Willen besaß ich durchaus.
Stuttgarter Rede und innerparteilicher Aufstieg
Obwohl als Abgeordneter eigentlich ein Neuling, kannte Genscher die inneren Abläufe in der FDP und im Parlament wie kein zweiter. Deshalb lag es nahe, ihn sogleich zum Parlamentarischen Geschäftsführer zu wählen. Erstmals größere Aufmerksamkeit erregte Genscher, als er im September 1966 eine Rede über die zukünftige Deutschland- und Europapolitik hielt. Anlass war der 20. Jahrestag einer vom damaligen US-Außenminister verkündeten Wende in der amerikanischen Deutschlandpolitik. Genscher nutzte diese Rede, um sich auch außenpolitisch zu profilieren, indem er aufzeigte, wie Einheit, Freiheit und Sicherheit Deutschlands zusammen zu verwirklichen seien. Seine zentrale Erkenntnis war dabei, dass dies nur im Einklang mit den Siegermächten des Weltkriegs und allen europäischen Nachbarstaaten zugleich möglich sein würde. Das beinhaltete eine klare Absage an bisherige Konzepte wie der „Politik der Stärke“ gegenüber dem Osten oder gar einem „Rollback“ der Sowjet-Union. Stattdessen setzte Genscher auf Gespräche und Verhandungen zwischen West und Ost. Klar war jedoch, dass eine solche Außenpolitik in der bestehenden Koalition mit der CDU vorerst nicht zu realisieren war. Und auch innerhalb der FDP gab es erheblichen Widerstand. Da aber fast zeit- gleich die Koalition platzte und die FDP sich plötzlich in der Opposition wiederfand, sah Genscher zunächst keine Möglichkeit, seine außenpolitischen Ambitionen politisch umzusetzen, beobachtete aber, ob und ggf. wie sich dafür politische Mehrheiten gewinnen ließen. Beim Bundespartei- tag 1968 in Freiburg wurde, nach einem innerparteilichen Kurswechsel und dem Rücktritt des bisherigen Vorsitzenden Mende, die Bundesspitze der FDP fast komplett neu gewählt. Genscher rückte zum stellvertretenden Parteivorsitzenden auf und bildete fortan mit dem neuen Vorsitzenden Walter Scheel und dem Fraktionsvorsitzenden Wolfgang Mischnick eine liberale „Troika“.
Der Innenminister
Vor allem aus außenpolitischen Gründen befürwortete er die Öffnung der FDP für eine Koalition mit der SPD auf Bundesebene, die 1969 dann von Scheel und dem SPD-Vorsitzenden Willy Brandt eingefädelt wurde. In dieser Koalition übernahm Genscher als erster bundesdeutscher Liberaler überhaupt das Innenministerium, das aufgrund seiner breitgestreuten Auf- gaben als schwierig galt. Genscher fügte dem breiten Zuständigkeitsspektrum des Innenministeriums sogar noch eine neue wichtige Aufgabe hinzu: Umweltschutz wurde eine zentrale Aufgabe des Staates und Genscher zugleich erster deutscher Umweltminister, der zahlreiche Umweltgesetze auf den Weg brachte und mit dem Umweltbundesamt eine zentrale Umweltbehörde gründete.
Zu einer ungewollten und ihn massiv fordernden Herausforderung wurde die Bekämpfung des gewalttätigen Links-Terrorismus, der von der inländischen RAF aber auch von radikalen Palästinensern ausgeübt wurde. Als Reaktion auf den Anschlag auf die israelische Mannschaft bei der Olympiade 1972 in München mit zahlreichen Opfern stellte Genscher eine spezielle Anti- Terror-Einheit des Bundesgrenzschutzes auf, die sich später als sehr wirksam erwies. Nicht verhindern konnte Genscher allerdings, dass ein DDR-Spion bis ins Bundeskanzleramt vordrang und nach Enttarnung den Rücktritt von Kanzler Brandt auslöste.
Vorwärts mit Deutschland und Europa
Der Kanzlerwechsel und die gleichzeitige Wahl von Walter Scheel zum Bundespräsidenten machte für Genscher den Weg frei an die Spitze der FDP und zum Vizekanzler in der Regierung von Helmut Schmidt. Verbunden damit war ein für viele überraschender Ressortwechsel: Genscher übernahm die Leitung des Auswärtigen Amtes. Nun konnte er daran- gehen, seine große Vision umzusetzen. Ein zentrales Mittel dazu war für ihn die seit 1973 tagende KSZE-Konferenz, in der die europäischen Staaten und die Nordamerikaner nun multilateral über die Stabilisierung des Friedens in Europa verhandelten. Genschers großes Ziel war eine Liberalisierung der Verhältnisse im sowjetischen Machtbereich, weil nur so die Selbstbestimmung aller Völker Europas einschließlich des deutschen zu erreichen war. Dass sich die KSZE 1975 prinzipiell auf die Einhaltung der Menschenrechte in ganz Europa festlegte, war nicht nur für Genscher von entscheidender Bedeutung. Auf der anderen Seite suchte er auch das Zusammenwachsen West-Europas voranzutreiben, u.a. gemeinsam mit dem italienischen Außenminister 1981 in der sog. „Genscher- Colombo-Initiative“, einem wichtigen Meilenstein bei der Schaffung eines europäischen Binnenmarktes. Seine wachsende Popularität als Außenminister setzte Genscher zugleich geschickt für seine Partei ein: 1980 erreichte die FDP mit Genscher als Spitzenkandidat nach 20 Jahren wieder ein zweistelliges Bundestagswahlergebnis.
Festhalten an der Entspannungspolitik
Zu dieser Zeit geriet die Entspannungspolitik in mehrfacher Hinsicht in eine Krise: Die Sowjet-Union besetzte 1979 Afghanistan und rüstete auf. Dem begegnete der Westen auf Drängen der Bundesregierung mit dem berühmten „Doppelbeschluss“, der eigene Aufrüstung und zugleich das Angebot zu Abrüstungsverhandlungen umfasste. Allerdings war dieser Punkt beim Koalitionspartner sehr umstritten. Hinzu kamen große wirtschaftlichen Probleme als Folge der Ölpreiskrisen, über deren Bewältigung SPD und FDP sehr kontrovers diskutierten. Genscher setzte lange auf eine wirtschaftspolitische „Wende“ mit den Sozialdemokraten, musste aber erkennen, dass sich die politischen Gemeinsamkeiten zwischen den Koalitionspartnern „verbraucht hatten“.
Als Konsequenz unterstützte er den hauptsächlich von FDP-Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff geforderten wirtschaftspolitischen Wechsel und trug den damit einhergehenden Koalitionswechsel nicht zuletzt auch aus außen- und sicherheitspolitischen Gründen mit. Im Oktober 1982 wurde dieser unter seiner Führung gegen große Widerstände in der eigenen Partei und Fraktion vollzogen und eine Regierung mit dem Christdemokraten Helmut Kohl gebildet. Dessen Partei hatte die gesamte Entspannungspolitik lange Zeit abgelehnt und tat sich schwer mit einer Fortsetzung von Genschers außen- politischem Kurs. Aufgrund seines Renommees, aber auch seines Geschicks konnte Genscher sichern, dass die Erfolge der Entspannungspolitik weitgehend bewahrt wurden. In dieser Hinsicht wurde es zeitweise „sehr einsam“ um den Außenminister, weil die neue amerikanische Reagan-Administration auf Konfrontationskurs ging und die Sowjet-Union freiheitliche Bestrebungen in ihrem Machtbereich, etwa in Polen, rabiat unterdrückte. „Genscherismus“, verstanden als Festhalten am Entspannungskurs und an der Kontaktpflege mit dem „Osten“ trotz scheinbar zunehmender Spannungen, war zu diesem Zeitpunkt für viele eher ein Schimpfwort.
„Gorbatschow ernst nehmen"
Die große Wende bahnte sich eigentlich schon im März 1985 an, als Michail Gorbatschow zum Generalsekretär der KPdSU gewählt wurde. Dieser wollte die wirtschaftlich kriselnde Sowjet-Union reformieren und war für Liberalisie- rung, aber auch neue Gespräche mit dem Westen offen. Im Westen wurde dies zunächst nicht ernst genommen. Genscher dagegen erkannte die Chancen, die in einem sowjetischen Kurswechsel liegen konnten. Anfang 1987 rief er öffentlich dazu auf, „Gorbatschow ernst zu nehmen“, d. h. die Entspannungspolitik neu zu beleben. Als dieser Mitte 1989 dann die Bundesrepublik besuchte, zeigte sich ein völlig neues Klima im Ost-West-Verhältnis.
Unsere Devise kann nur lauten: Nehmen wir Gorbatschow ernst, nehmen wir ihn beim Wort!
Beschleunigt wurde die Entwicklung durch die allmähliche Liberalisierung, die Ende der 1980er im gesamten sowjetischen Machtbereich eintrat und sich rasch verstärkte. Da sie anders als in China nicht gewaltsam unterdrückt wurde, baute sich bis zum Spätsommer 1989 ein erheblicher Druck auf die kommunistischen Regimes auf. In der DDR wuchs dieser schnell zu einer Flüchtlingswelle an, die über Prag oder Budapest nach Westen strebte, aber zunächst noch vor der Grenze gestoppt wurde. Am Rande der UN-Vollversammlung, wo Genscher traditionell den Anspruch der Deutschen auf nationale Selbstbestimmung bekundete, sondierte er erfolgreich eine Lösung für die sogenannten „Botschaftsflüchtlinge“. Am 30.9.1989 konnte er vom Prager Botschaftsbalkon deren Ausreise mit dem dann legendär gewordenen Satz „Wir sind heute zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise …“ verkünden, dessen Ende im Jubel unterging.
Einheit in Freiheit
Die erste große Bresche in den nach dem Zweiten Weltkrieg Europa zerschneidenden „Eisernen Vorhang“ war geschlagen. Die Situation in der DDR stabilisierte sich nicht mehr, am 9. November 1989 öffnete die SED-Führung die Grenzen der DDR. Es stellte sich nun die Frage, wie für Deutschland und Europa eine neue, von allen getragene Ordnung entstehen sollte. Genscher sah jetzt die Chance, seine Vision von 1966 zu verwirklichen. Mit seinem Plan, die Neuordnung Deutschlands mit den vier Siegermächten des Weltkriegs und der neuen DDR-Führung zu verhandeln, wollte Genscher sicher- stellen, dass sich an zentralen Essentials der bundesdeutschen Außenpolitik – Zugehörigkeit zur Nato und EU-Mitgliedschaft – nichts änderte. Die Wiedereinigung sollte nicht auf Kosten von Freiheit und Sicherheit der Deutschen erlangt werden. Vor allem dank der amerikanischen Unterstützung gelang es, dies in den sogenannten „2+4-Gesprächen“ bis Mitte September 1990 durchzusetzen, sodass am 3. Oktober die deutsche Wiedervereinigung feierlich begangen werden konnte. Nachdem mit Polen und der Sowjet-Union Freundschaftsverträge abgeschlossen worden waren, setzte die „Charta von Paris“ am 21. November 1990 den Schlussstein unter Genschers große Vision, indem hier das Ende der Spaltung Europas feierlich bekräftigt wurde. Die mit der Entspannungspolitik und der KSZE verbundenen Hoffnungen Genschers waren schließlich aufgegangen, die deutsche Einheit in einem freien Europa Realität geworden.
Schon zuvor hatte er die „Wiedervereinigung des deutschen Liberalismus“ erleben dürfen, als sich die ostdeutschen liberalen Parteien und die westdeutsche FDP am 11. August 1990 zur gesamtdeutschen FDP zusammenschlossen. Für die Ende 1990 anstehende Bundestagswahl war Genscher, der die Parteiführung bereits 1985 abgegeben hatte, faktisch der liberale Spitzenkandidat. Seine Popularität hatte zwar zu- nächst unter der Wende von 1982 gelitten, war dann wieder allmählich zu alten Höhen angestiegen, lange Jahre führte er die Beliebtheitsskala deutscher Politiker mit weitem Abstand an. Seinem Renommee war es vor allem zu verdanken, dass die FDP nun in Halle, wo der „wuppertaltreue“ Genscher gar nicht kandidierte, das Direktmandat gewann und insgesamt eines ihrer besten Wahlergebnisse erzielte.
Der Elder Statesman
Jedoch fielen bald Schatten auf die friedlich-freiheitliche Aufbruchsstimmung des Jahres 1990. Der Zerfall Jugoslawiens ließ alte ethnische Spannungen wiederaufkommen, zum ersten Mal seit 1945 wurde in Europa wieder gekämpft. Auch im Nahen Osten eskalierte wegen irakischer Aggressionen die Lage, viele im Kalten Krieg wirksamen Muster zur Konflikteindämmung griffen nicht mehr. Genscher schien es geraten, vor diesem Hintergrund seinen offiziellen Abschied aus der Weltpolitik auf dem Höhepunkt seines Ansehens selbst zu bestimmen und Jüngeren Platz zu machen. Im Frühjahr 1992 erklärte er für die meisten überraschend nach 18 Dienstjahren – für Außenminister in demokratischen Systemen ein Rekord – seinen Rückzug als Minister und Vizekanzler. Ein gänzlicher Rückzug aus der Politik war das nicht. Sein Einfluss in der FDP blieb auch als Ehrenvorsitzender– seit 1992 – groß, außenpolitisch war sein Rat weltweit gefragt. Das nutzte er auch dafür, die inzwischen abgekühlten Verbindungen zwischen Bonn resp. Berlin und Moskau zu pflegen, wobei er sich auch für verfolgte Regime-Gegner einsetzte. Am 31. März 2016 starb Hans-Dietrich Genscher nahe Bonn und wurde mit einem Staatsakt im alten Bonner Bundestag geehrt.
Was bleibt
Seine letzte Ruhestätte fand er im Rheinland, wo er, der sicherlich bekannteste Hallenser der jüngeren Zeit, über 60 Jahre gelebt und gewirkt hatte. Insofern war nicht nur sein Wirken, sondern auch sein Lebensweg gesamtdeutsch. Einheit in Freiheit, das berühmte Motto der liberalen Nationalbewegung während des 19. Jahrhunderts, bestimmte auch das politische Wollen Hans-Dietrich Genschers. Es erschöpfte sich aber nicht darin. Der Politiker Genscher war ungeheuer vielseitig und wurde häufig unterschätzt: Galt er zunächst als „Mann des Apparats“, so entwickelte er bereits bei seinem ersten großen öffentlichen Auftritt eine weitgreifende Vision für die deutsche Außenpolitik. Diese verlor er nicht aus den Augen, als seine Fähig- keiten auf einem ganz anderen Gebiet gefragt waren. Auch als Innenpolitiker zeigte er jene gelungene Kombination zwischen Pragmatismus und Innovation, die letztlich auch seine Außenpolitik bestimmte.
Europa ist unsere Chance. Eine andere haben wir Deutsche nicht.
Immer hatte er einen klaren Kompass, auch wenn er manchmal geschickt offen- ließ, wohin er eigentlich wollte, was ihm den zunächst kritisch gemeinten Vorwurf des „Genscherismus“ einbrachte, der sich dann aber zu einer sehr positiven Bezeichnung für politisches Agieren wandelte. Nicht nur dieses „geflügelte Wort“ deutet daraufhin, dass Hans-Dietrich Genscher zu den einflussreichsten und zu- gleich populärsten Politikern des späten 20. Jahrhunderts gehört. Von letzterem zeugen nicht nur die unzähligen Karikaturen, häufig als Elefant mit großen Ohren, sondern auch die Comic-Figur des „Genschman“, der immer wieder die Welt rettet. Der weltweit einflussreichste liberale Parteipolitiker des vorigen Jahrhunderts war er ohnehin, dessen Beitrag zum Zusammenwachsen eines freiheitlichen Europas kaum zu überschätzen ist.