Walther Rathenau
Mit Walther Rathenau wurde heute vor 150 Jahren eine der faszinierendsten, aber zugleich auch schwer zu verstehenden Persönlichkeiten der jüngeren deutschen Geschichte geboren. So meinte Theodor Heuss 1916 in einer Rezension von Rathenaus Schriften, hier seien „merkwürdige Töne, die aus der Welterfahrenheit der großkapitalistischen Organisation kommen“. Zu diesem Zeitpunkt war noch nicht absehbar, dass beide – Heuss und Rathenau – zwei Jahre später derselben Partei angehören sollte und dass Heuss nochmals vier Jahre später eine öffentliche Gedenkrede auf den ermordeten Parteifreund halten würde.
Ein Liberaler mit Ecken und Kanten
Nicht nur Heuss, sondern fast alle Liberalen im frühen 20. Jahrhundert taten sich mit dem Unternehmenserben und produktiven Essayisten schwer, der so gar nicht in die landläufige Vorstellung von einer liberalen Persönlichkeit passte. Gewiss, Rathenau war leitend in einem der größten und innovativsten deutschen Unternehmen tätig, überaus gebildet und eine durch und durch bürgerliche Erscheinung. Aber das Spottwort vom „Jesus im Frack“ kam nicht von ungefähr: Konzeptionell redete er nicht der freien Marktwirtschaft, sondern einer „verstandesmäßig durchdachten Gesamtwirtschaft des Volkes“ das Wort, und dies auch auf einem liberalen Parteitag.
Seine Preußen-Verehrung ging nicht nur einem Süddeutschen wie Heuss zu weit. Der Schriftsteller Stefan Zweig sah in Rathenaus ganzem Leben „einen einzigen Konflikt immer neuer Widersprüche“. Vieles davon rührte sicherlich aus seinem Judentum her, womit er sich intensiv auseinandersetzte, auch wenn oder gerade weil er unter den daraus resultierenden gesellschaftlichen Zurücksetzungen litt.
Gebremste Karriere vor 1918
Und doch suchte Rathenau schon vor dem Ersten Weltkrieg die Nähe zum Liberalismus, weil er seine Hoffnungen für gesellschaftlichen Fortschritt im wilhelminischen Deutschland auf das Bürgertum setzte. Beide liberalen Strömungen begegneten diesen Avancen zunächst zurückhaltend, die Förderung einer politischen Karriere Rathenaus blieb vorerst aus.
Im Weltkrieg bewies Rathenau sein Talent als kriegswichtiger Organisator und danach war der Weg frei für den politischen Aufstieg, nun zumindest mit Unterstützung der Linksliberalen: Rathenau wurde Starredner bei liberalen Versammlungen, auch wenn das, was er propagierte, alles andere als populär war.
Einsicht in die Notwendigkeit außenpolitischer Kooperation
Denn Rathenau war zu der Einsicht gelangt, dass der sicherlich bedrückende „Versailler Vertrag“ nicht durch Obstruktion und Verweigerung, sondern nur die Kooperation überwunden werden können und dass davon ganz Europa profitieren würde: „Es handelt sich darum, einen Kontinent wiederherzustellen. Die Lösung des Problems wird darin bestehen, dass erkannt wird die eng Verflochtenheit und Verbundenheit der europäischen Nationen, dass erkannt wird die freiwillige oder unfreiwillige Schicksalseinheit eines ganzen Kontinents, und dass Konsequenzen mit Kraft und Nachdruck gezogen werden, die die Zeit und die Not erfordern.“ So Rathenau bei einer Rede im Juli 1921.
Insofern war es folgerichtig, dass er schon als Berater der Reichsregierung, dann als Wiederaufbauminister und schließlich als Außenminister die Verständigung mit den Siegermächten, vor allem mit Frankreich suchte, auch wenn ihm das von rechts die Schmähung als „Erfüllungspolitikers“ einbrachte. Aber es war im Grunde der einzige erfolgreiche Weg aus der deutschen Misere, was allerdings nur wenige von Rathenaus Zeitgenossen erkannten.
Rapallo aus Umweg
Das galt übrigens auch für die ausländischen Staatsmänner im Westen, wo immer noch Revanchedenken den Willen zur Verständigung überdeckte. Diese Konstellation brachte dann Rathenaus bekanntestes außenpolitischen Werk hervor, das er eigentlich gar nicht wollte: den Vertrag von Rapallo mit der Sowjetunion. Ironischerweise musste man ihn im wahrsten Sinne zu diesem Schritt tragen, für den er in erster Linie als Außenpolitiker in der Erinnerung geblieben ist und durch den er später nicht ganz zu Recht immer mal wieder als Kronzeuge herhalten musste.
Vornehmlich weil bei der Konferenz in Genua Mitte April 1922 keine Annäherung mit dem Westen in der Reparationsfrage in Sicht war, vereinbarte die deutsche Regierung mitsamt dem zögernden Rathenau im Gegenzug ein Abkommen mit der verfemten Sowjetunion, in das vielmehr hineininterpretiert worden ist, als tatsächlich drin stand.
„Märtyrer der Republik“
Dieser außenpolitische Erfolg konnte aber den Hass der Republikgegner von rechts keinesfalls verringern, im Gegenteil: Als Jude, Großbürger und Liberaler wurde Rathenau jetzt erst Recht zur Symbolfigur all dessen, was Ewiggestrige und enthemmte Weltkriegsteilnehmer am demokratischen System ablehnten. Zehn Wochen nach Rapallo fiel Rathenau einem lange geplanten Attentat junger Rechtsextremisten zum Opfer, bis heute der einzige deutsche Minister, der auf diese Weise aus dem Amt schied.
Fast schien es, als ob sein Tod zum Wendepunkt der demokratischen Republik werden konnte, was vor allem daran lag, dass nun ein anderer Liberaler endgültig zu einer konstruktiven Haltung zum neuen Staat fand: Vor allem außenpolitisch sollte Gustav Stresemann Rathenaus Werk fortsetzen und auf einen scheinbar guten Werk führen. Dass es am Ende ganz anders kommen und katastrophal enden sollte, lag weder an dem einen noch dem anderen: Beide waren tot, als die erste deutsche Demokratie ihrem Untergang entgegen ging.
Nachleben als früher Entspannungspolitiker
Beide stehen aber für die Alternativen, die die deutsche Entwicklung unter liberalen Auspizien hätte einschlagen können. Insofern kann man sich nur Theodor Heuss anschließen, der in seinen „Erinnerungen“ über Rathenaus Ermordung schrieb: „Es bleibt der Phantasie überlassen auszudenken, welche Möglichkeiten deutscher politischer Entwicklung mit diesem Tod vernichtet wurden.“ Der jüdische Liberale war vergeblich zum „Märtyrer der Republik“ geworden. Er bleibt aber in langfristiger Perspektive ein Wegbereiter der Entspannungspolitik, die im 20. Jahrhundert gerade unter liberaler Führung noch viele Erfolge feiern sollte. So war es kein Zufall, dass es Berliner Liberale waren, die nach dem Zweiten Weltkriegen die Gedenktafel erneuerten, der noch heute am Ort der unfassbaren Tat vor 95 Jahren steht.
-
Würdigung der FDP zum 100. Geburtstag Rathenaus, 1967
-
Presseartikel über die Ermordung Rathenaus, 1922