Polen
Polens Verfassungsgericht entscheidet über den Rechtsstreit mit der EU
Am 13. Mai wird das polnische Verfassungstribunal unter dem Vorsitz einer ehemaligen Abgeordneten der national-konservativen Regierungspartei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) über die Frage verhandeln, ob die Disziplinarkammer des Obersten Gerichtshofs Polens trotz einer einstweiligen Anordnung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) weiter tätig bleiben kann. Die polnische Regierung vertritt den Standpunkt, dass die einstweiligen Anordnungen des EuGH gegen die polnische Verfassung verstoßen. Manchen Medien zufolge könnte das Urteil dazu führen, dass die Regierung die Entscheidungen des EuGH in Justizangelegenheiten in Zukunft ignoriere. Hinzu kommt, dass sowohl der Vorsitz des Verfassungstribunals als auch die Disziplinarkammer umstritten sind.
Es ist nicht das erste Mal, dass es zu einem Konflikt zwischen der PiS-Regierung und der EU über Änderungen im polnischen Justizbereich kommt. Nach ihrem Antritt im Jahre 2015 hatte die PiS das polnische Justizwesen wesentlich umgebaut und die Unabhängigkeit der polnischen Gerichte unterminiert. Aufgrund ihrer Justizreform wurden die Regeln für die Richterberufung neu festgelegt: Der Landesrichterrat (KRS), der Kandidaten für Richterposten vorgibt, wird nicht mehr von der Richterschaft gewählt, sondern von der Parlamentsmehrheit. Die PiS bekommt dadurch die Möglichkeit, ihr nahestehende Personen für den KRS zu nominieren und damit die Auswahl der Richter zu beeinflussen.
Streit um die Disziplinarkammer
Im Zuge der Justizreform wurde auch eine Disziplinarkammer am Obersten Gericht geschaffen, die Richter oder Staatsanwälte bestrafen oder entlassen kann. Für Aufregung sorgte im Februar 2020 das Gesetz zur Disziplinierung von Richtern, das von den Regierungsgegnern als „Maulkorb-Gesetz“ bezeichnet wird. Gemäß dem Gesetz drohen Richtern, die gegenüber den bisherigen Justizreformen kritisch sind, Geldstrafen, Herabstufung oder sogar Entlassung. Außerdem hindert das Gesetz polnische Richter daran, sich bei bestimmten Rechtsfragen an den EuGH zu wenden.
So hob die Disziplinarkammer im vergangenen Jahr die Immunität des regierungskritischen Richters Igor Tuleya auf, der inzwischen zu einer Symbolfigur der Proteste gegen staatliche Eingriffe in das Justizwesen geworden ist. Im April urteilte die Disziplinarkammer aber überraschendweise, den Warschauer Richter aus Mangel an Beweisen nicht zu verhaften. Tuleya ist jedoch überzeugt, dass diese Entscheidung nicht das Ende seines Falles bedeute und betont, dass sie nichts an der Tatsache ändere, dass die Disziplinarkammer kein unabhängiges Organ sei.
Auch der EU-Kommission zufolge ist die polnische Disziplinarkammer rechtswidrig. Das Urteil des EuGH stet noch aus. Vor kurzem bezeichnete der EuGH-Generalanwalt Evgeni Tanchev in einem neuen Gutachten es als eindeutig, dass die Einrichtung einer Disziplinarkammer gegen EU-Recht und die Unabhängigkeit der Justiz verstoße. Im Rahmen einer einstweiligen Anordnung setzte der EuGH die Tätigkeit der Disziplinarkammer bereits im April 2020 aus. Diese Anordnung wird jedoch seitens der polnischen Regierung mit der Begründung ignoriert, dass der EuGH nicht das Recht habe, über die EU-Rechtskonformität der Maßnahmen der Disziplinarkammer zu entscheiden. Ende März reichte daher die EU-Kommission beim EuGH eine neue Klage und den Antrag auf weitere einstweilige Anordnung im Streit um die polnischen Justizreformen ein.
Die Disziplinarkammer hat kurz nach der Ankündigung aus Europa eine Rechtsfrage über die Vereinbarkeit der Anordnung des EuGH mit der polnischen Verfassung an das Verfassungstribunal gestellt. Die Verhandlung, die ursprünglich am 28. April stattfinden sollte, wurde auf den 13. Mai vertagt. Das Urteil, das der Konflikt zwischen Polen und der EU weiter anheizen könnte, wird nun mit großer Spannung erwartet. Manchen Beobachtern zufolge könnte der Ausgang der Causa andeuten, wie Polen in der Zukunft mit den Entscheidungen von EuGH in Sachen der Justizreform umzugehen gedenkt.
(Un-)abhängiges Urteil?
Das Verfassungstribunal, das nun über die Frage der Vereinbarkeit der einstweiligen EuGH-Anordnungen mit der polnischen Verfassung entscheidet, wird von Regierungskritikern als illegitim angesehen. Ihm wird vorgeworfen, unter dem Einfluss der regierenden PiS zu stehen. Aufgrund des Justizumbaus wurde in einem juristisch und politisch umstrittenen Verfahren die Mehrheit der Richter von der Regierung ernannt. Die EU-Kommission sieht in der Übernahme des Gerichtswesens durch die PiS-Partei einen Verstoß gegen Rechtsstaat und Gewaltenteilung.
Regierungskritiker zeigen sich nun besonders darüber besorgt, dass zu den Mitgliedern des Gremiums, das über die Verfassungsmäßigkeit der einstweiligen Anordnungen entscheidet, auch die ehemalige PiS-Abgeordneten Krystyna Pawłowicz (Vorsitzende des Gremiums) und Stanisław Piotrowicz gehören, die als Abgeordnete im polnischen Sejm die Gesetzgebung zur Einführung verfassungswidriger Änderungen (einschließlich der Einrichtung der Disziplinarkammer), aktiv mitgestalteten. Sie machen darauf aufmerksam, dass dies ein klarer Verstoß gegen alle Regeln unparteiischer Rechtsprechung darstelle.
Zur Frage der Legitimität des polnischen Verfassungstribunals äußerte sich in der vergangenen Woche auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). In seinem Urteil befand der EGMR, dass das polnische Verfassungsgericht kein „rechtmäßig festgelegtes Tribunal“ sei und dass ein Richter, der im Rahmen der PiS-Justizreform unrechtmäßig ernannt wurde, zur Entscheidung nicht befugt sei. Es ist das erste Mal, dass ein europäisches Gericht dem polnischen Verfassungsgericht die Legitimität absprach.
Manche Rechtsexperten sehen dies als bahnbrechende Entscheidung und vermuten, dass das Urteil eine breite praktische Anwendung haben wird. Die Präsidentin des Verfassungstribunals, Julia Przyłębska, behauptet jedoch, dass das Urteil ohne Rechtsgrundlage sei und keine Auswirkung auf das polnische Rechtssystem haben werde.
Wie geht es nun weiter?
Die PiS ist seit langem der Meinung, dass nationales Recht Vorrang vor EU-Recht habe. Nachdem der EuGH Anfang März im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens entschied, dass die polnischen Regeln für Richterberufung Gemeinschaftsrecht verletzten, hat der polnische Premierminister dem Verfassungstribunal sogar die Frage der Normenhierarchie von Unionsrecht und polnischen Verfassungsrecht vorgelegt. Die Entscheidung wurde noch nicht getroffen, der PiS-Regierung zufolge könne jedoch Polen als souveräner Staat dieses Urteil nicht akzeptieren. In den EU-Verträgen steht jedoch eindeutig, dass Entscheidungen des EuGH bindend sind.
Sollte das polnische Verfassungstribunal daher am Donnerstag beschließen, dass einstweilige Anordnungen des EuGH nicht im Einklang mit der polnischen Verfassung sind, würde das eine wesentliche Untergrabung der Funktionsfähigkeit des EU-Rechtssystems bedeuten. Einige Kommentatoren sprechen in diesem Zusammenhang sogar über einem weiteren Schritt in Richtung eines PolExit, des Austritts des Landes aus der EU. Klar ist, dass ein Urteil schwerwiegende Folgen für Polen haben kann und den Konflikt zwischen Polen und der EU weiter verschärfen würde. Mit dem EU-Beitritt verpflichtet sich jeder Mitgliedstaat, an die in der Union geltenden gesetzlichen Bestimmungen – einschließlich der Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit – gebunden zu sein. Und das gilt auch für Polen.
Natálie Maráková ist Projektmanagerin der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit im Büro für die Mitteleuropäischen und Baltischen Staaten in Prag.
Redaktionelle Anmerkung: Nach dem Redaktionsschluss des Artikels wurde bekannt gegeben, dass das Verfassungstribunal die für den 13. Mai angesetzte Anhörung, bei der es sich mit der einstweiligen Anordnung des EuGHs zur Aussetzung der Tätigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts befassen sollte, kurzfristig auf den 15. Juni verschoben hat.