Israel
Der Tag nach dem Gaza-Krieg
Die Kalkulation der Hamas und ihre Konsequenzen
Die Hamas begann wahrscheinlich vor mehr als einem Jahr, ihren mörderischen Plan auszuarbeiten. Dieser sah vor, in Israel einzumarschieren und kaltblütig Zivilisten zu ermorden. Ziel des Vorhabens war es, den Status quo zwischen Israel, dem Gazastreifen und dem Westjordanland zu verändern, um möglichst viele palästinensische Gefangene freizupressen. Die Hamas-Führung hatte einen scheinbar unfehlbaren Plan: Der Krieg im Gazastreifen sollte das Westjordanland in Aufruhr versetzen, das Regime von Mahmoud Abbas stürzen und die arabischen Bürger Israels dazu bewegen, eine nationale Front zu bilden. Der Iran würde den Gazastreifen über seine Stellvertreter im Libanon, im Irak, in Syrien und im Jemen unterstützen. Und die arabischen Länder wären aufgrund wütender pro-palästinensischer Menschenmassen gezwungen, die Beziehungen zu Israel abzubrechen und die Abraham Accords sowie die zuvor unterzeichneten Friedensverträge zu annullieren.
die arabischen Bürger Israels haben nicht auf die aktuelle Notlage der Hamas reagiert – sie fühlen sich stärker mit Israel verbunden als je zuvor.
Die Reaktion der arabischen Bürger Israels
Zwei Monate nach Kriegsbeginn scheint es, als ob sich die Hamas in vielerlei Hinsicht verkalkuliert hat. Zwar bleibt die Lage im Westjordanland besorgniserregend und könnte sich bis zum Jahresende weiter verschlechtern. Doch die arabischen Bürger Israels haben nicht auf die aktuelle Notlage der Hamas reagiert – sie fühlen sich stärker mit Israel verbunden als je zuvor. Die Hisbollah, der wichtigste iranische Verbündete, beschränkt ihr Engagement auf kleinere militärische Manöver. Der von der Hamas erhoffte totale Krieg ist nicht eingetreten. Die gemäßigten arabischen Länder, die Beziehungen zu Israel unterhalten, weigern sich mehrheitlich, der Hamas in die Hände zu spielen. Sie haben beschlossen, die strategischen Beziehungen zu Israel nicht abzubrechen.
Ägypten und Jordanien standen schon einmal vor ähnlichen Herausforderungen: Nur drei Jahre nachdem der Friedensvertrag zwischen Ägypten und Israel unterzeichnet wurde, brach der erste israelisch-libanesische Krieg aus. Dies führte zu Wut und Protesten in der ägyptischen Gesellschaft. Auch die jordanische Regierung musste mit einer erzürnten Öffentlichkeit umgehen, als im September 2000 die al-Aqsa-Intifada begann. Damals brachen arabische Länder wie Tunesien und Bahrain, die gerade eine Normalisierung ihrer Beziehungen mit Israel anstrebten, diese angesichts der Gewaltausbrüche im Gazastreifen und Westjordanland ab. Es gab keine offiziellen Botschaften oder Verträge, der Rückzug erfolgte schnell und abrupt (interessanterweise blieb das israelische Handelsbüro in Katar bis 2009 bestehen).
Der Gaza-Konflikt als Belastungsprobe für die Abraham Accords
Der Gaza-Krieg stellt die Abraham Accords daher auf die Probe. Die Golfstaaten trafen dieses Mal jedoch eine andere Entscheidung: Sie kritisierten Israel aber auch die Hamas deutlich. Gleichzeitig hielten sie an den diplomatischen, sicherheitspolitischen und kommerziellen Beziehungen zu Jerusalem fest. Airlines flogen weiterhin vom Flughafen Ben-Gurion nach Dubai und Abu Dhabi, Botschaften blieben geöffnet und Botschafter wurden nicht offiziell zurückgerufen. Die Grundlage der Beziehungen blieb also intakt. Allerdings berichten zahlreiche israelische Geschäftsleute und Diplomaten, dass Verträge auf Eis gelegt und neue Abkommen nicht unterzeichnet werden. Die Länder der Abraham Accords versuchen, zwischen der Unterstützung für die palästinensische Zivilbevölkerung und der Wahrung ihrer eigenen Interessen abzuwägen. Länder mit einer gemeinsamen Grenze und konfliktreichen Vergangenheit mit Israel äußern kritischere Statements und treffen drastischere Entscheidungen. So beschloss beispielsweise Jordanien, seinen Botschafter aus Israel abzuberufen – ein Schritt, der erwartet wurde.
Der Krieg in Gaza hat in vielen arabischen Ländern zu großer Wut geführt. Sie beklagen die hohe Anzahl ziviler Opfer und Verzögerungen bei der Bereitstellung von humanitärer Hilfe. Zudem sind sie beunruhigt über die Auswirkungen der Kampfhandlungen auf die Region sowie die zunehmende Beliebtheit der Hamas und anderer radikal-islamischer Gruppen im eigenen Land. Trotz dieser Kritik halten sie an ihren strategischen Beziehungen zu Israel und den Vereinigten Staaten fest.
Sicherheit entscheidend für die Nachbarländer im Nahen Osten
Im Jahr 1977 wurde dem ägyptischen Präsidenten Anwar Sadat vorgeworfen, die palästinensische Sache aufgegeben zu haben. Diese Vorwürfe kamen vor allem von den Palästinensern selbst, aber auch von einer radikalen Gruppe arabischer Länder. Im Jahr 2020 kritisierten dieselben Stimmen (und der Iran) die Vereinigten Arabischen Emirate, Bahrain, Marokko und den Sudan für die Normalisierung ihrer Beziehungen zu Israel. Im Jahr 2023 richtete sich die gleiche Kritik gegen Saudi-Arabien, das mit den Vereinigten Staaten und Israel über einen „Grand Deal“ verhandelte. 1977 bestand Anwar Sadat darauf, dass der „Autonomieplan“ in das Camp-David-Abkommen aufgenommen wird. Die Emirate forderten von Netanjahu, die Annexionen im Westjordanland zu stoppen – und die Saudis betonen regelmäßig, dass es ohne eine politische Perspektive für die Palästinenser schwierig sein wird, Fortschritte zu erzielen.
Die Rolle der gemäßigten arabischen Staaten nach dem Krieg
Es stellt sich heute die Frage, ob diese Länder mehr tun können, um den Friedensprozess, die Verhandlungen und den Aufbau eines Staates im Westjordanland und im Gazastreifen wieder in Gang zu bringen. Die regionale Beteiligung wird seit über zwanzig Jahren diskutiert, nachdem Kronprinz Abdullah Bin Abd al-Aziz seine „saudische Friedensinitiative“ der Arabischen Liga vorlegte. Israel hat die Initiative nie aufgegriffen, und die Saudis und ihre arabischen Verbündeten haben sie auch nie nachdrücklich unterstützt. Die arabische Welt hatte mit anderen Problemen zu kämpfen: Wirtschaftskrise, Arabischer Frühling, Aufstieg des IS und Jugendarbeitslosigkeit. Die Abraham Accords und das Normalisierungsabkommen mit Marokko zeigen jedoch, dass die arabische Welt nicht darauf warten möchte, bis die Israelis und Palästinenser ihren Konflikt endlich lösen. Sie will sich auch nicht direkt in den Konflikt einmischen und distanzieren sich von langfristigen Problemen wie der Hamas-Präsenz im Gazastreifen, dem konfrontativen Regime von Abu-Mazen in Ramallah, der zunehmenden Zahl gewalttätiger Siedlerangriffe im Westjordanland und der mangelnden Bereitschaft Israels, etwas anderes zu tun als „den Konflikt zu verwalten“.
Heute liegt der Gazastreifen in Trümmern und das Hamas-Regime könnte bald gestürzt werden. Das Westjordanland steht in Flammen, nachdem die Popularität der Hamas dort stark gestiegen ist. Auch die Gewalt der Siedler und militärische Übergriffe nehmen zu. Die arabische Welt muss ihre Politik überdenken. Wenn sie die humanitäre Krise in Gaza und die Unruhen im Westjordanland ignoriert, wird das ihre Regierungen destabilisieren und dem Iran und seinen Stellvertretern in die Hände spielen.
Die Notwendigkeit einer politischen Perspektive im Nahen Osten
Nach dem Krieg müssen die gemäßigten arabischen Staaten mehr als nur humanitäre Hilfe leisten. Sie sollten zumindest einen Teil des Vakuums füllen, das die Hamas und ihre Unterstützer aus Katar hinterlassen werden. Dabei geht es nicht darum, den Gazastreifen zu regieren – das erfordert eine funktionierende palästinensische Autonomie, um die Kontrolle über den Streifen zurückzugewinnen. Stattdessen sollten sie durch Wohltätigkeitsorganisationen, Bauprojekte, Bildungssysteme und religiöse Einrichtungen eine starke Präsenz im Gazastreifen aufbauen. Die Staaten müssen auch eine rote Linie in ihren Beziehungen zu Israel ziehen. Es braucht eine politische Perspektive für die Palästinenser, die eine Rückkehr zur Zweistaatenlösung beinhaltet. Diese Lösung wird von Netanjahu und seiner Regierung entschieden abgelehnt.
Saudi-Arabien und das potenzielle Abkommen mit Israel: Auf Eis, aber nicht abgesagt
Saudi-Arabien ist das spannendste Land in dieser Angelegenheit. Nicht, weil andere Länder unwichtig wären – Ägypten spielt beispielsweise eine entscheidende Rolle, da es den einzigen Übergang vom Gazastreifen zur Außenwelt kontrolliert. Aber Saudi-Arabien ist der Hüter der heiligen Stätten des Islams, es hat die arabische Friedensinitiative ins Leben gerufen und könnte seine Beziehungen zu Israel noch vor Ende 2024 normalisieren. Während der gesamten Krise betonten die Saudis, dass das vor dem 7. Oktober ausgehandelte Abkommen nach wie vor gültig sei. Schließlich bezieht der „Grand Deal“ auch die USA ein. Das könnte es Saudi-Arabien ermöglichen, strategische Ziele wie Rüstungsgeschäfte, ein Verteidigungsabkommen und vielleicht sogar den Bau eines Atomreaktors zu erreichen. Es besteht kein Zweifel daran, dass die Hamas ebenso ein Feind der saudi-arabischen wie auch der israelischen Regierung ist, da sie die regionale Sicherheit destabilisiert und staatliche Autorität untergräbt.
Was also muss geschehen, damit dieses Abkommen in Kraft tritt? Derzeit sieht es so aus, als müsste sich dafür die Zusammensetzung der israelischen Regierung grundlegend ändern. Sowohl Saudi-Arabien als auch die Vereinigten Arabischen Emirate haben sich für eine moderate Politik entschieden. Sie unternehmen große Anstrengungen, ihre Länder zu öffnen und radikale islamistische Strömungen zu bekämpfen. Der extreme Charakter vieler Mitglieder der derzeitigen israelischen Regierung wirkt auf die Entscheidungsträger am Golf abstoßend. Ein erstes Zeichen dafür war die Ausladung von Netanjahu aus Abu Dhabi im Januar dieses Jahres. Zuvor hatte Itamar Ben-Gvir, der israelische Minister für innere Sicherheit, beschlossen, den Tempelberg zu besuchen. Wenn es in Jerusalem nicht zu einem tiefgreifenden Wandel kommt – und das dürfte dauern – könnte das Abkommen auf unbestimmte Zeit auf Eis gelegt werden.
Die Vorausschau: Der nächste Konflikt im Nahen Osten und regionale Perspektiven
Der Krieg gegen die Hamas ist noch nicht vorbei und wird voraussichtlich noch monatelang in verschiedenen Formen fortgeführt werden. Die arabischen Staaten mit normalisierten Beziehungen zu Israel wissen, dass die iranischen Verbündeten der Hamas weiterhin versuchen werden, nicht nur den Gazastreifen, sondern auch andere Fronten zu destabilisieren. Die Hisbollah hat sich trotz der Hilferufe der Hamas bisher kaum in den Krieg eingemischt, obwohl sie weiterhin israelische Militärstellungen und manchmal auch zivile Ziele angreift. Angesichts des enormen Raketenarsenals der Hisbollah ist klar, dass diese Scharmützel weit weniger sind, als die Hamas erwartet hatte. Israelische Experten haben in den vergangenen Jahren oft über einen möglichen Krieg im Norden diskutiert, der vom Libanon ausgeht und sich auf Syrien und möglicherweise auch den Irak ausweitet.
Dieser Krieg könnte in einigen Monaten oder auch erst Jahren beginnen. Doch in Israel sind viele davon überzeugt, dass er unvermeidlich und sein Ausbruch nur eine Frage der Zeit ist. Die gemäßigten arabischen Länder und Israel sind sich einig, dass der Iran und seine Stellvertreter eine der Hauptursachen für die Destabilisierung der Region sind. So greifen die vom Iran unterstützten Huthi-Rebellen derzeit Schiffe in der Nähe der strategisch wichtigen Meerenge Bab al-Mandab an. Allerdings gehen sie unterschiedlich mit diesem Problem um: Israel hat keine andere Wahl, als den iranischen Einfluss im Libanon, in Syrien und manchmal im Irak zu bekämpfen. Währenddessen versuchen viele arabische Staaten, sich mit dem Iran zu versöhnen und ihre ehrgeizigen wirtschaftlichen Pläne voranzutreiben. Die Geheimdienste der verschiedenen Staaten kooperieren und werden dies künftig verstärkt tun.
Gleichzeitig werden die moderaten arabischen Staaten durch ihre Beziehungen zum Iran versuchen, einen Krieg mit dem Libanon um jeden Preis zu verhindern. Ein solcher Krieg könnte den Libanon in ein zweites Gaza verwandeln und die Spannungen zwischen den Ländern der Region weiter verschärfen. Die humanitäre Lage im Gazastreifen und das Fehlen einer funktionsfähigen Regierungsstruktur könnten zudem zu angespannten Beziehungen zwischen Israel und Ägypten führen – insbesondere, wenn Tausende verzweifelte Menschen aus Gaza den Rafah-Grenzübergang nach Ägypten stürmen, um dem Krieg zu entkommen.
Nur durch einen Paradigmenwechsel...zu „Gemäßigte gegen Radikale“ können wir die wachsende Kluft zwischen allen Seiten verringern
People-to-People-Beziehungen: Ein Schlüssel zur Stabilität in der Region
Es ist derzeit nicht abzusehen, wann sich die Lage in und um den Gazastreifen stabilisieren wird oder wann die Beziehungen zwischen den Ländern der Region wieder den Stand von vor dem 7. Oktober erreichen werden. Es ist in jedem Fall von zentraler Bedeutung, dass Israel „People to People“-Beziehungen zu seinen arabischen Nachbarn einschließlich der Palästinenser aufbaut. Sonst wird Israel auch weiterhin von wütenden und oft hasserfüllten Reaktionen aus der arabischen Öffentlichkeit überrascht werden.
Die derzeitige Zusammenarbeit zwischen Israelis und Palästinensern konzentriert sich vor allem auf bestimmte Militärs und Geschäftsleute. Um die Dynamik jedoch zum Positiven zu verändern, müssen Israelis und Palästinenser sich in das Netzwerk gemäßigter arabischer Staaten integrieren und gemeinsam an Konfliktlösungen arbeiten. Die Regierungen wissen nicht, wie sie diese Verbindungen herstellen können – aber die Zivilgesellschaft weiß es. Sie sollte den Weg zu einer besseren Version des Nahen Ostens weisen. Nach dem Gaza-Krieg wird es auf beiden Seiten wenig Interesse an Frieden geben. Genau deshalb sollten diese Beziehungen gefördert und ausgebaut werden. Nur durch einen Paradigmenwechsel von „Araber gegen Juden“ oder „Israelis gegen Palästinenser“ zu „Gemäßigte gegen Radikale“ können wir die wachsende Kluft zwischen allen Seiten verringern und uns für eine echte Integration von Israelis und Palästinensern im gesamten Nahen Osten einsetzen.
Ksenia Svetlova ist geschäftsführende Direktorin von ROPES (Regionale Organisation für Frieden, Wirtschaft und Sicherheit), Non-Resident Senior Fellow beim Atlantic Council und ehemaliges Mitglied der israelischen Knesset.