Energiewende
Marokko – Klimachampion mit Fragezeichen
Marokko genießt in Deutschland den Ruf, ein Vorreiter in der Klima- und Umweltpolitik zu sein. Diesen Ruf hat sich das Königreich während der vergangenen zehn Jahre durch eine ehrgeizig vorangetriebene Energiewende und durch seine rege Beteiligung an den internationalen Klimaverhandlungen erarbeitet – 2016 war es sogar Gastgeber der COP 22 in Marrakesch. Seit die Bundesregierung 2020 mit Marokko ein Abkommen über die Produktion und Lieferung von grünem Wasserstoff abgeschlossen hat, ruht auf dem nordafrikanischen Staat zudem die Hoffnung, auch eine entscheidende Rolle bei der deutschen Energiewende zu spielen.
Dabei ist der Übergang zur Nutzung nachhaltiger Energiequellen für Schwellen- und Entwicklungsländer eine noch viel größere Herausforderung als beispielsweise für Deutschland. Sie verfügen über geringere finanzielle Mittel, um Investitionen zu stemmen und müssen gleichzeitig den Energiebedarf wachsender Bevölkerungen mit noch stärker wachsenden Konsumbedürfnissen befriedigen. Das ist auch für Marokko der Fall. Trotzdem hat König Mohamed VI. die Umweltpolitik im Allgemeinen und die Energiewende im Speziellen schon früh zu Prioritäten seines Landes erklärt. Das Recht auf „Zugang zu Wasser und eine gesunde Natur“ ist seit 2011 sogar in der marokkanischen Verfassung verankert.
Diese Prioritätensetzung ist vor allem der geografischen Lage Marokkos geschuldet, die Fluch und Segen zugleich ist. Marokkos größte Nachbarn sind der Atlantische Ozean und die Sahara. Das Land ist daher vom Anstieg des Meeresspiegels und dem weltweiten Wachstum der Wüsten besonders betroffen. Tausende Marokkaner sind schon heute von Dürren und Ernteausfällen betroffen und geben ihre Existenzen in den ländlichen Gebieten auf. Die Folgen sind ein unkontrolliertes Anwachsen von Ballungsgebieten wie Casablanca und eine rapide steigende Arbeitslosigkeit. Marokko ist also zum Handeln gezwungen, so bringt es auch Hakima El Haité, ehemalige Umweltministerin und heutige Präsidenten von Liberal International, auf den Punkt: „Die Länder, die leiden, können nicht warten“.
Auf der anderen Seite verfügt Marokko über ein unermessliches Potential zur Gewinnung von Wasserkraft, Wind- und Solarenergie. Laut einer Schätzung der deutschen Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ), könnte Marokko in mittlerer Zukunft seinen gesamten Strombedarf durch erneuerbare Energien decken und gleichzeitig noch grünen Wasserstoff in andere Länder exportieren.
Mit seiner ambitionierten Klima- und Umweltpolitik hat Marokko bereits viel erreicht. Schon heute deckt das Land knapp 20 Prozent seines Strombedarfs mit erneuerbarer Energie. Würde man alle installierten Kapazitäten nutzen, könnten es sogar knapp 40 Prozent sein. Bis 2030 soll mehr als die Hälfte des bereitgestellten Stroms durch Wasser, Wind und Sonne erzeugt werden.
Doch das Image des Klimachampions Marokko bekommt derzeit Risse. Vor allem beim Bau großer Solaranlagen kommt es zu massiven Verzögerungen und ausufernden Kosten. Sinnbildlich für dieses Problem ist das Vorzeigeprojekt Noor bei Ouarzazate, das derzeit größte Solarkraftwerk der Welt. Dieses ist seit 2016 am Netz und versorgt bis zu zwei Millionen Menschen mit Strom.
Das Kraftwerk verursacht dem marokkanischen Staat jedes Jahr ein Defizit von rund 80 Millionen Euro, was vor allem darauf zurück zu führen ist, dass Marokko auf das falsche Pferd gesetzt hat. Denn Noor ist vorwiegend eine Solarthermie-Anlage. Diese hat den Vorteil, dass Energie aus Sonnenwärme über den Tag gespeichert und abends abgerufen werden kann, wenn der Bedarf besonders hoch ist. Doch der Rest der Welt hat während der vergangenen Jahre überwiegend in Photovoltaik investiert, weshalb die erwünschten Effizienzgewinne und Kostensenkungen auf dem Feld der Solarthermie ausgeblieben sind. Die Entscheidung für die rückblickend falsche Technologie, die nun auch für Verzögerungen bei einem weiteren Großprojekt in Midelt sorgt, ist nicht nur Pech, sondern auch Konsequenz einer zentralistischen und wenig technologieoffenen Steuerung. Zu diesem Ergebnis kommt ein Bericht des marokkanischen Wirtschafts- und Sozialrats.
In diesem Zusammenhang monieren die Experten auch die Dominanz der staatlichen Energieagentur ONEE (Office nationale d’électricité et de l’eau potable), die es kleineren und mittleren Energieproduzenten kaum erlaubt, selbst gewonnen Strom ins marokkanische Netz einzuspeisen. Dezentralen Initiativen und innovativen Ansätzen zur Gewinnung erneuerbarer Energie ist somit ein bürokratischer Riegel vorgeschoben. Doch gerade mit kleineren Projekten und der Erprobung unterschiedlicher Technologien könnten Innovationen und privatwirtschaftliche Initiativen gefördert und ein finanzielles Fiasko wie Noor in Zukunft vermieden werden.
Bei aller zentralistischen Steuerung mangelt es der marokkanischen Energiepolitik trotzdem an Kohärenz. Statt ganz auf das nachgewiesenermaßen enorme Potential der Erneuerbaren im eigenen Land zu setzen, investiert Marokko weiter in fossile Energieträger. Da es selbst über keine Öl- oder Kohlevorkommen verfügt, muss es diese aber teuer importieren. 2018 ging ein neues Kohlekraftwerk in Safi in Betrieb und im Juni begannen die Bauarbeiten an einer umstrittenen Erdgaspipeline. Diese soll Marokko zukünftig entlang der afrikanischen Westküste mit Nigeria verbinden. Falls das Land eines Tages grünen Wasserstoff nach Europa liefert, seinen eigenen Strombedarf aber zu großen Teilen weiter aus Kohle und Gas deckt, wäre damit klimapolitisch wenig gewonnen. Die deutschen Hoffnungen auf grünen Wüstenstrom sind also mit Vorsicht zu genießen.
Eine große Aufgabe für Marokko bleibt außerdem die Sensibilisierung der eigenen Bevölkerung für Umwelt- und Klimaschutz. Davon zeugen die teilweise erdrückenden Mengen Plastikmüll an den Stränden und entlang der Straßen, die längst nicht nur ein ästhetisches Problem sind, sondern zur Verunreinigung von Wasser und Böden beitragen und der Attraktivität Marokkos als Tourismusdestination schaden.
Wenn Marokko sich dieser Unzulänglichkeiten ernsthaft annimmt, kann es dem Anspruch eines Klimavorreiters immer noch gerecht werden – und damit vielen anderen Schwellen- und Entwicklungsländern einen erfolgreichen Weg in eine nachhaltigere Zukunft weisen. Dabei könnte es sich auch der tatkräftigen Unterstützung kommunaler und regionaler Bürgerinitiativen bedienen, wie sie beispielsweise von der Friedrich-Naumann-Stiftung in der Küstenstadt Essaouira unterstützt werden. Dort haben junge Universitätsprofessoren die Provinzgemeinschaft hinter dem gemeinsamen Projekt einer nachhaltigeren Stadt versammelt und unter anderem den Bau von Fahrradwegen und die Digitalisierung der Verwaltung angestoßen.
Ein anderes Beispiel für einen erfolgreichen, dezentralen Ansatz ist das Projekt „grüne Moscheen“, das von der GIZ und dem marokkanischen Energieministerium umgesetzt wird: Zehntausende Gotteshäuser werden mit Solarpaneelen und Energiesparlampen ausgestattet. Die zuständigen Imame nehmen dies zum Anlass, um neben dem Koran auch den Respekt vor der Umwelt zu predigen. Auf dem Weg zu einer umweltbewussten Gesellschaft werden Marokko und seine internationalen Partner jedoch noch einen langen Atem brauchen.