#FEMALEFORWARDINTERNATIONAL
Kämpfend die Welt verändern
Erringen rechtlicher und sozialer Siege, Nino Bolkvadze erwartet keine bessere Welt: Sie erschafft sie selbst.
„Endlich habe ich die Bedeutung der Regenbogenfahne verstanden. Wenn Ihr Leben blüht und neue Farben annimmt, werden Ihre Emotionen heller und kräftiger, das Leben ist voller Freude. Das Coming-out bringt natürlich Probleme mit sich, aber diese sind kein Vergleich dazu, wie wenn man im Verborgenen bleibt. Das ist keine Lösung“, sagte Nino Bolkvadze.
Sie hatte ein öffentliches Coming-out im staatlichen Fernsehen Georgiens, einer ehemaligen Sowjetrepublik, das an der Grenze zwischen Europa und Asien liegt. Dort werden die Rechte der LGTB-Menschen noch immer gewaltsam in Frage gestellt.
Aufgewachsen zwischen Stadt und Land, heiratete sie im Alter von 16 Jahren und ist heute eine erfolgreiche Anwältin mit zwei Kindern im Teenageralter. Es dauerte 20 Jahre, bis Nino zu sich fand. Ihr Coming-out war ein Meilenstein nicht nur in ihrer persönlichen Befreiung, sondern auch eine Botschaft an andere – die nicht nur ihr, sondern das Leben vieler anderer für immer verändert hat, ebenso wie die Geschichte der georgischen LGBT-Community.
Hass führt zur Spaltung
Die georgische Gesellschaft ist immer noch konservativ und die politischen und religiösen Mächte suchen politische Vorteile durch die Diskriminierung der LGBT-Community. Eine vergleichende Studie der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit zeigt, dass „die Schwere und Häufigkeit von Hassverbrechen gegen LGBT-Menschen in Georgien trotz der jüngsten Fortschritte eine Herausforderung bleibt“, und bestätigt Ninos Einschätzung, dass die meisten Hassverbrechen gegen die LGBT-Gemeinschaft ungestraft bleiben. Gewalt wird nicht nur mit rechtsextremen oder Hassgruppen in Verbindung gebracht. Es gibt auch häusliche und psychische Gewalt, die ebenfalls ein ständiges Problem darstellt. Nach ihrem Fernseh-Auftritt 2015 wurde Ninos Ehemann verfolgt, weil er „sein weibliches Familienmitglied nicht kontrollieren konnte“. Sowohl Nino als auch die FNF bewerten, dass Georgien in Bezug auf die Menschenrechte über eine ausreichend fortschrittliche Gesetzgebung verfügt. Es gibt aber ein Problem bei der Strafverfolgung. Im Jahr 2013 wurde dieser Widerspruch deutlich. Während des Internationalen Tages gegen Homophobie, Transphobie und Biphobie (IDAHOT) am 17. Mai griffen Gegendemonstranten eine friedliche Versammlung der LGBT-Gemeinde an. Nino war bereits Anwältin, trat aber nicht in der Öffentlichkeit auf. Nach den gewaltsamen Übergriffen, vom 17. Mai, wurde ihr klar, dass sie sich nicht länger verstecken konnte. Sie ließ sich von ihrem Mann scheiden und machte ihre sexuelle Orientierung vor ihren Freunden und ihrer Familie öffentlich. Dabei verlor sie mehrere Menschen, gewann aber auch viel Unterstützung und viele neue Freunde. Zum ersten Mal erlebte sie ein Gefühl der Zugehörigkeit.
Es war keine Rache am System, als sie 2015 bei einem öffentlichen Auftritt im nationalen Fernsehen ihr Coming-out hatte, es war eine Revanche.
Nino glaubt an Bildung und das Einreißen von künstlich errichteten Mauern durch Menschen. Sie sieht aber auch Identitätspolitik als wichtigen Faktor an. „Ich möchte nicht zum Kampf aufrufen, weil wir gegen niemanden kämpfen. Dies ist kein Kampf zwischen zwei Seiten; Ich glaube an keine Spaltung zwischen Osten und Westen. Es ist eine Frage von Denkmustern und Herangehensweisen, die sich dem Lauf der Zeit anpassen werden. In jeder Gesellschaft werden wir früher oder später akzeptiert. Ich sehe keinen anderen Weg. Krieg ist kein Mittel, Krieg bringt niemandem etwas Gutes.“
Um mit gutem Beispiel voranzugehen, entschied sich Nino, bei den Wahlen auf der Liste der Republikanischen Partei zu kandidieren, weil die LGBT-Community in Georgien kaum Möglichkeiten hat, sich für ihre Rechte einzusetzen. Sie war die erste offene Lesbe in der Geschichte Georgiens, die diese Position innehatte. Für die Öffentlichkeit ist es schwierig, ohne Mobbing, Diskriminierung oder Gewalt Zugang zu öffentlichen Foren zu erhalten. Ninos Teilnahme an den Wahlen gab ihr eine große Plattform, um die Probleme der Community zu äußern. Sie schaffte es auch, sich der Gesellschaft nicht nur als sie selbst zu präsentieren, sondern auch als Person, die die Werte einer etablierten politischen Partei teilt.
Anderen helfen
In der zweiten Klasse entwickelte sie als Kind ein Gefühl für Menschenrechte. Sie sah, wie das Schulsystem in Kategorien unterteilt war und versuchte, die Kinder voneinander zu trennen. Einmal sagte ihr ein Lehrer, dass sie sich nicht mit einem Mädchen, mit dem sie sich angefreundet hatte, abgeben sollte, das aus einer armen Minderheitenfamilie stammte. Nino gehorchte nicht. Ihr ausgeprägter Gerechtigkeitssinn und ihr Wunsch, ihrem Vater zu helfen, der vom harten sowjetischen Strafvollzug dauerhaft geschädigt war, führten sie im Alter von 16 Jahren zum Jurastudium. Als Anwältin und Aktivistin unterstützt Nino unermüdlich LGBT-Menschen in Georgien, hält Vorlesungen an Universitäten und kreiert verschiedene Kunstprojekte, bei denen sie sich von ihrer Liebe zum Lesen inspirieren lässt. Es gibt immer noch Orte, an welche sie nicht geht, aber ihr Haus in einem Dorf in Gurien gehört nicht dazu: Sie wird von ihrer Familie akzeptiert und kommt mit ihrer Partnerin zu Besuch dorthin. Manchmal verbindet das Leben Menschen auf andere Weise: Vor einigen Jahren wurde Nino mit einer Thrombose ins Krankenhaus eingeliefert, ihre Überlebenschancen waren ungewiss. Die Ärzte erkannten sie, aber sie interessierten sich nicht für ihre sexuelle Orientierung und verbrachten Nächte damit, sie zu pflegen. Und als andere Patienten sahen, wie ihre Partnerin sie pflegte, ihre Hand hielt und neben dem Bett saß, wurde der anfängliche Schock durch das gemeinsame Erleben der Notlage in Verständnis verwandelt. Politiker irren sich, wenn sie glauben, dass eine Mobilisierung „gegen" etwas auf Dauer funktioniert. Das Christentum hat dazu beigetragen, Georgien als Land zu retten, aber Verfolgung und Hass sind keine christlichen Werte und werden nach hinten losgehen. Deshalb sind Bildungs- und Justizreformen notwendig, Georgiens Demokratie wird ohne diese beiden Säulen zerbrechen.“
Es gibt auch Hoffnungsschimmer: Nach dem Angriff auf zwei lesbische Paare wenige Tage vor unserem Interview gab die „Labour Partei“ eine Erklärung ab, in der sie die Hassverbrechen gegen die LGBT-Community verurteilte; es war ein beispielloser politischer Akt.
Nino erhält auch Briefe von jungen Mädchen, deren Eltern sie akzeptieren, seit sie Ninos Reden und Vorträgen zugehört hatten. Ein Mann erkannte sie im Bus und bot ihr bedingungslose Hilfe an. Sie ist stolz auf ihren legitimen Sieg, der erfolgreiche Fälle von sexueller Diskriminierung von Frauen am Arbeitsplatz oder Diskriminierung von schwulen Männern im Gefängnis umfasst. Letzteres betraf einen jungen Häftling, der schwul war und im Gefängnis arbeitete, während er seine Strafe verbüßte. Für Eltern und Verwandte ist ein Kind, das wegen eines schweren Verbrechens wie Mord oder Vergewaltigung verurteilt wurde, akzeptabler, als wenn es homosexuell ist. Die inoffizielle Gefängnis-Codex verbietet es schwulen Gefangenen, die persönlichen Gegenstände anderer anzufassen, ihre Hände zu ergreifen, mit ihnen zusammen zu essen und ähnliche Aktivitäten. Mitgefangene sagten dem Gefängniswärter, wenn er sich nicht für diese Regeln einsetze, würden sie das Problem selbst lösen würden. Der schwule Gefangene verlor seine Arbeitsstelle im Gefängnis. Nino verlangte vor Gericht die Entlassung als rechtswidrig und diskriminierend aufzuheben und sie hatte damit Erfolg.
Sie sagten, dass es in Georgien keine Schwulen gibt
Nino musste ihre eigenen Kämpfe durchmachen, um die Frau zu werden, die sie es heute ist. Mit fünfzehn Jahren verliebte sie sich das erste Mal und zwar in eine neue Klassenkameradin. Dies verursachte einen Skandal. Die Eltern des Mädchens gaben das Mädchen in eine neue Schule, während Nino die Schule wechseln musste. Das Schlimmste, was einem Mädchen, nach Aussage ihrer Eltern, passieren könne, sei weder etwas in der Schule, noch Krieg oder Armut in Georgien, sondern wenn es nicht heiratet und keine Kinder bekommt. Also heiratete sie früh und gab ihr wahres Ich auf, in der Hoffnung, dass sie „geheilt“ würde. Es ist unnötig zu erwähnen, dass sich ihr Leben in eine andere Richtung entwickelt hat. Sie glaubt, dass nicht jeder ein Coming-out haben sollte, sondern erst, wenn sie oder er dazu bereit seien und ihre eigene Sicherheit allem voran gewährleistet sei. Aber ein Coming-out ist nicht immer mit Akzeptanz verbunden. Und ein Mensch muss sich zu aller erst selbst akzeptieren.
Nino glaubt an individuelles Handeln und Verhalten und erkennt an, dass Georgien eine gute Gesetzgebung hat, aber nur dann strafrechtlich verfolgt wird, wenn diskriminierte Parteien eine Klage einreichen. Nur dann werden Anwälte wie sie in der Lage sein, die Menschenrechte zu verteidigen und für eine Verankerung in entsprechenden Verordnungen kämpfen.
Homophobie ist nicht das Hauptproblem – politische Hindernisse seien viel schwieriger zu überwinden. Die wichtigsten politischen Kräfte in Georgien verhindern die Berichterstattung über homophobe Angriffe durch die Medien und schmeicheln den Tätern mit „traditioneller“ Rhetorik. In einem armen Land, in dem die Regeln der herrschenden Klassen zusammengebrochen sind und eine Pandemie die wirtschaftlichen Nöte verschärft, geht der Machterhalt mit einer Konsolidierung gegen verschiedene Feinde einher. Westliche Werte und die LGBT-Community seien die Speerspitze negativer politischer Mobilisierung.
Angst vor Fremden funktioniert psychologisch gut und wie die Geschichte zeigt, geht Angst vor „anderen“ so weit, dass man Angst um die Ressourcen des eigenen Landes bekommt. Die Vorurteile, die zur Brandmarkung und Ablehnung der Community führen, müssen umgekehrt werden, um zu zeigen, dass es sich bei ihnen um Menschen wie alle anderen handelt und dass sie keine Monster sind. Es sind in erster Linie Menschen mit unterschiedlichen Werten und politischem Geschmack, und die Mitgliedschaft in jeder Gemeinschaft bringt stets Meinungsverschiedenheiten mit sich. Aber wenn sie ihre Rechte anerkannt haben wollen, müssen sie sich für die Anerkennung ihrer Identität einsetzen.
Identitätspolitik hat natürlich ihre Herausforderungen, und einige ihrer Strategien haben in der Ukraine funktioniert, einem Beispiel für ein homophobes Land unter russischem Einfluss und ein ehemaliges Mitglied der Sowjetunion, vergleichbar mit Georgien. Der Zweck der Gesellschaft besteht nicht darin, eine Institution zu provozieren und zu schaffen, egal welchen Status quo sie repräsentiert. In Georgien wurde oft gesagt, dass es keine Schwulen gebe. Es gab Gerüchte, dass Homosexuelle aus dem Westen kamen. Eine Person mit einer anderen sexuellen Orientierung musste sich verstecken. Deshalb ist es notwendig, miteinander zu sprechen. Die Leute sollten herauskommen, ihre Geschichten erzählen und in den Medien über diese Themen berichten.
Ein Kampf gegen Windmühlen
2019 sahen Aktivisten, wie stark die Regierung an ihrer Hasspolitik festhielt und wie weit die georgische Gesellschaft von Menschenrechten und europäischen Werten entfernt war. Zusammen mit anderen Organisatoren der Tiflis Pride erhielt Nino Drohungen und auch ihre Kinder und ihre Partnerin erhielten Todesdrohungen und sie war Desinformationsangriffen im Internet ausgesetzt. Es war ein Wunder, dass niemand verletzt wurde. Am 14. Juni protestierten Pride-Aktivisten von Tiflis gegen die Weigerung der georgischen Regierung, die Öffentlichkeit während der geplanten Pride-Veranstaltungen zu schützen. Mitglieder der Gemeinde versammelten sich vor der Staatskanzlei, wo sie von rechten Aktivisten empfangen wurden.
Die Pride fand schließlich am 8. Juli 2019 statt und 30 Minuten vor der Auflösung waren sie völlig ungeschützt vor rechtsextremen Aktivisten. Aber Nino spricht über den Erfolg der Gesellschaft. Sie ist unermüdlich: „Schritt um Schritt werden wir gewinnen. Wir werden zeigen, wer wir sind, und wir werden mehr Unterstützung bekommen."
Jetzt unterzeichnen zum ersten Mal in der Geschichte Georgiens 15 politische Parteien ein Memorandum zum Schutz von LGBT. Nino betont drei Ziele, die sie in Zukunft erreichen will: Sie will sich weiterhin für liberale Werte in Georgien einsetzen, will ihre beruflichen Fähigkeiten bei der Legalisierung von Lebenspartnerschaften einsetzen. Und sie hofft auf die politische Interessensvertretung der LGBT-Community, die Vertretung braucht. „Es gibt überall Mitglieder der Community, in allen Lebensbereichen, sogar in der Kirche. Wenn du glücklich sein willst, musst du deiner Gemeinschaft dienen, den Menschen dienen, dich selbst und andere lieben und sie gut behandeln. Und wir haben keine Wahl, wir müssen miteinander reden. „Es ist keine Utopie, ohne Diskriminierung auf eine prosperierende Demokratie zu warten. Denn unser Schicksal liegt in unseren Händen. Wenn nicht wir, wer sonst?“