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Bulgarien
Premierminister Borissow in Bedrängnis

Anti-Regierungsproteste in Sofia
Anti-Regierungsproteste in Sofia © picture alliance / NurPhoto | Hristo Rusev

Seit fast zwei Wochen gehen in Bulgarien täglich tausende Menschen auf die Straße – auf den ersten Blick fordern sie den Rücktritt von Ministerpräsident Bojko Borissow und Generalstaatsanwalt Iwan Geschew. Doch bei genauerer Betrachtung wird klar, dass es bei den Protesten um mehr geht – die Menschen haben genug von korrupten Politikern und Strukturen, mafiösen Oligarchen, gekaperten Staatsinstitutionen und Hinterzimmerdeals. Sie kämpfen um eine Perspektive in ihrem Land.

Ein Schlauchboot, eine Handykamera und eine gute Internetverbindung haben Hristo Iwanow gereicht, um die bulgarische Politik in Aufruhr zu versetzen. Der ehemalige Justizminister (2014-2015) Iwanow, Mitbegründer der zentristischen Start-up Partei „Da, Bulgaria“, wollte an der Schwarzmeerküste bei Burgas in der Nähe einer palastähnlichen Villa an Land gehen, wurde aber von mehreren Sicherheitskräften daran gehindert. Iwanow muss mit diesem unfreundlichen Empfang wohl gerechnet haben, denn er strahlte die gesamte Aktion per Facebook live aus.

Die Männer, die Iwanow am Betreten des Strandabschnitts hinderten und zurück ins Meer stießen, waren keine privaten Bodyguards, sondern Beamte des Nationalen Sicherheitsdienstes NSO, deren eigentliche Aufgabe darin besteht, Mandatsträger zu schützen. Doch der Mann, der in jenem Palast am Meer residiert und den die NSO-Beamten auf Staatskosten schützen, bekleidet kein öffentliches Amt. Es handelt sich um den Gründer und Ehrenvorsitzenden der Partei „Bewegung für Rechte und Freiheiten“ (DPS), Ahmed Dogan. Iwanow berief sich bei seiner Aktion auf ein Gesetz, wonach die Küsten Bulgariens öffentlich zugänglich und allen Bürgern gleichermaßen zur Verfügung stehen müssen.

Dogan ist seit mehr als dreißig Jahren im politischen Geschäft und gehört zu den einflussreichsten und umstrittensten Persönlichkeiten der bulgarischen Politik. Fast genauso lange sagen seine Gegner ihm nach, er habe seine Partei zu einem Zentrum der Hinterzimmerdeals und der korrupten Machenschaften der bulgarischen Oligarchie entwickelt. Die DPS wurde in den ersten Tagen nach dem Fall des Eisernen Vorhangs gegründet, um der türkischen Minderheit des Landes eine politische Stimme zu verleihen. Nach Jahren, zum Teil auch in der Regierung, habe sich die DPS laut politischer Beobachter heute in eine das System mittragende Oppositionspartei gewandelt. Dass Dogan mit Steuergeldern von Beamten der NSO bewacht wird, führt in der bulgarischen Öffentlichkeit nun zu hitzigen Debatten.

Der Geist ist aus der Flasche – Bulgaren fordern Rücktritt der Regierung

Dank der Live-Übertragung über die Sozialen Medien ging die Aktion von Iwanow ging viral und sorgte dafür, dass wenige Tage später mehrere hundert Menschen versuchten, sich Zugang zu dem abgesperrten Strand zu verschaffen. Für die eigentliche Initialzündung der landesweiten Proteste sorgte hingegen die Anordnung des Generalstaatsanwalt Iwan Geschew, das Präsidialamt zu durchsuchen, wobei zwei enge Mitarbeiter von Präsident Rumen Radev vorübergehend festgenommen wurden.

Die politische Botschaft hinter der Aktion war klar: Es wird mit harten Bandagen gekämpft. Zuvor hatte Radev, der ein entschiedener Gegner des Ministerpräsidenten und dessen Generalstaatsanwalt ist, den Schutz Dogans durch nationale Beamte kritisiert und sich demonstrativ an die Seite der Demonstranten gestellt. Abend für Abend treffen sie sich seitdem und skandieren „Mafia van!“ (Mafia raus) und „Ostavka!“ (Rücktritt).

Die Protestbewegung, die mittlerweile seit zwei Wochen landesweit anhält, wird von keiner bestimmten Gruppe dominiert: Liberale, Sozialisten, Sozialdemokraten, Grüne und Menschen anderer politischer Couleur haben als gemeinsamen Nenner den Wunsch nach einer grundlegenden Demokratisierung des Landes, Stärkung der Rechtsstaatlichkeit und Bekämpfung der Korruption gefunden.

Gerade dieser neue Zusammenhalt einer bislang sehr fragmentierten Opposition macht sie für Borissow umso gefährlicher. Die Demonstrationen verliefen derweil größtenteils friedlich, doch das harte Vorgehen der Polizei stieß auf Kritik, als drei junge Menschen durch Polizeigewalt verletzt und im Krankenhaus behandelt werden mussten.

Demonstration in Bulgarien

Generalstaatsanwalt Teil des Problems

Geschew veröffentliche anschließend abgehörte Telefonmitschnitte, die belegen sollen, dass die Demonstranten von einem ins Ausland geflüchteten „Oligarchen“ gekauft und gesteuert seien. Das einflussreiche Amt des Generalstaatsanwalts, in Bulgarien politisch nahezu unangreifbar, ist schon länger im Visier des Präsidenten, der sich für eine stärkere Kontrolle dieser Position einsetzt. In einer Fernsehansprache kritisierte Präsident Radev das „mafiöse Gebaren“ der Regierung und forderte Ministerpräsident und Generalstaatsanwalt zum Rücktritt auf.

Ministerpräsident Borissow war in einem Facebook-Video um Schadensbegrenzung bemüht: „Nichts hält uns in der Regierung außer der Verantwortung“, sagte er dort. Überraschenden Gegenwind bekam Borissow jedoch aus den Vereinigten Staaten. „Jede Nation verdient ein Justizsystem, das unparteiisch und der Rechtsstaatlichkeit verpflichtet ist“, erklärte die US-Botschaft in Sofia.

Die Regierungspartei GERB gab bekannt, dass es in den kommenden Tagen Änderungen im Kabinett geben werde. Auch der staatliche Schutz des DPS-Gründers Dogan werde eingestellt. All diese Ankündigungen konnten jedoch die Gemüter nicht beruhigen

Borissows Zukunft: ungewiss

Als hätte er in diesen Tagen nicht schon genug erlebt, muss Borissow diese Woche ein Misstrauensvotum der Sozialdemokraten überstehen. Doch der ehemalige Bodyguard Borissow ist krisenerprobt. Zahlreiche Vorwürfe der Korruption, Geldwäsche und Intrigen sowie mehrere Misstrauensvoten konnte er bislang unbeschadet überstehen. Doch eine aktuelle Umfrage von „Gallup Bulgaria“ ergab, dass sich 58% der Befragten den Rücktritt seiner Regierung wünscht.

Unerwartete Unterstützung könnte dem politischen Überlebenskünstler aber die Corona-Krise leisten. Denn Demonstranten könnten aufgrund zunehmender Fallzahlen im Land abgeschreckt werden, weiterhin auf Straßendemonstrationen zu gehen, bei denen Distanz- und Hygieneregeln nicht eingehalten werden können.