Taiwan
William Lai: Taiwans nächster Präsident?
Im Januar 2024 wählt Taiwan einen neuen Präsidenten. Die regierende liberale Demokratische Fortschrittspartei (DPP) schickt William Ching-te Lai, aktuell Vizepräsident Taiwans, ins Rennen. Lai liegt derzeit in Umfragen vorne. Seine bisherige Karriere hatte Triumphe und Kontroversen. Seine Gegner werden sich im Wahlkampf auf seine früheren Äußerungen für ein unabhängiges Taiwan konzentrieren. Es gibt weitere Herausforderungen. Lai muss die traditionelle DPP-Wählerschaft für sich gewinnen: Frauen, junge Menschen und die queere Community.
Nach zwei Amtszeiten in Folge darf die amtierende Präsidentin Tsai Ing-wen nicht mehr kandidieren. Ihr Vize William Ching-te Lai will die Nachfolge antreten und ist in Umfragen derzeit Favorit. Doch bis zur Wahl ist es noch ein gutes halbes Jahr hin, in dem viel passieren kann.
Der 63-jährige William Ching-te Lai wurde 1959 in Taiwan geboren. Dort und in den USA studierte er Medizin. Ab 1994 engagierte er sich politisch. Lai arbeitete für den ehemaligen Justizminister Ding-nan Chen. Sein Chef ermutigte ihn, für ein politisches Amt zu kandidieren. Lai gewann 1999 einen Sitz als Abgeordneter im Legislativ Yuan, Taiwans Parlament. Er war in Tainan angetreten, der südlichen Hochburg seiner Partei, der DPP. Dort hatte Lai zuvor als Arzt gearbeitet. Er bliebt bis 2010 Parlamentsabgeordneter. Dann kandidierte er als Bürgermeister von Tainan und gewann. 2014 gelang ihm eine bemerkenswerte Wiederwahl mit gut 72 Prozent der Stimmen. Ein solch überzeugendes Ergebnis hatte es bei Kommunalwahlen in Taiwan noch nie gegeben.
Längere Arbeitszeiten sind gute Taten
Lai hatte seine politischen Fähigkeiten bewiesen und genoss großen Rückhalt in der Bevölkerung. Daher wurde er 2017 von Taiwans Präsidentin Tsai zum Premierminister ernannt. Allerdings war er während seiner Amtszeit nicht unumstritten. Die Änderung des Arbeitsgesetzes in seinem ersten Amtsjahr löste eine Reihe von Protesten aus. Im Zentrum der Kontroverse stand Lais Aussage, die Arbeitnehmenden sollten längere Arbeitszeiten als "gute Taten" betrachten. Das führte bei jungen Leuten zu Hohn und Spott. Die Gesetzesreform enthielt mehrere umstrittene Änderungen, darunter die Erhöhung der zulässigen Überstunden von 46 Stunden pro Monat auf 138 Stunden in einem Dreimonatszeitraum. Das machte mehr als 46 Überstunden in einem Monat möglich. Zudem durften Arbeitgeber in einigen Branchen von ihren Beschäftigten verlangen, bis zu 12 Tage ohne freien Tag zu arbeiten. Es folgte eine deutliche Niederlage der DPP bei den Kommunalwahlen 2018. Lai erkannte die negativen Auswirkungen seiner Gesetzesreform an, übernahm Verantwortung für Wahlschlappe und trat als Premierminister zurück.
Im gleichen Jahr schrieb Lai, ein Mediziner mit Harvard-Masterabschluss, die Verbreitung von HIV der schwulen Community zu. Das taiwanische Center for Disease Control (CDC) stellte schnell klar, dass HIV ohne Zusammenhang mit der sexuellen Orientierung durch ungeschützte sexuelle Kontakte übertragen wird. Lais umstrittene Äußerung ruinierten sein Image bei jungen, queeren und weiblichen DPP-Anhängern. Auch innerparteilich hatte seine Haltung Konsequenzen. Lai hatte die Präsidentschaftskandidatur 2020 angestrebt, verlor aber gegen seine Parteikollegin Tsai Ing-wen. Lai wurde als Tsais Vizepräsidentschaftskandidat nominiert. Das Gespann gewann mit deutlicher Mehrheit.
Unterstützung der Unabhängigkeit?
Auch außenpolitische Äußerungen von Lai sorgten für Schlagzeilen. 2017, als er Premier war, bezeichnete Lai sich "zweifellos als einen Politiker, der die Unabhängigkeit Taiwans unterstützt". Er sei jemand, der "diese Haltung niemals ändern wird, egal welches Amt ich bekleiden werde". Nun, da Lai Taiwans nächster Präsident werden könnte, haben ausländische Medien die Frage gestellt, wie Lai zur taiwanischen Unabhängigkeit stehe und was seine Haltung für die Beziehungen zu Peking bedeuten könne.
Fairerweise: Lai hatte seine Aussage im Jahr 2017 schnell relativiert. Seine Haltung zur Unabhängigkeit Taiwans sei "pragmatisch". Er liebe China ebenso sehr wie Taiwan. Im Laufe der Jahre hat Lai seinen Standpunkt zur Unabhängigkeit Taiwans mehrmals modifiziert. Im Januar 2023, als Lai den Posten des DPP-Vorsitzenden und sich damit abzeichnete, dass er Präsidentschaftskandidat wird, erklärte er, Taiwan sei "bereits unabhängig". Diese exakte Formulierung hatte zuvor Präsidentin Tsai in einem Interview mit der BBC gewählt. Im Mai 2023 versicherte Lai den Wählern erneut, er werde nicht Taiwans Unabhängigkeit erklären. Unter seiner Führung werde kein de jure unabhängiger Status angestrebt. Mit der Abschwächung seiner Position von 2017 adressiert Lai nun sowohl Washington als auch Peking. Er versichert beiden Akteuren, dass er im Falle seiner Wahl zum Präsidenten den Status quo Taiwans aufrechterhalten werde.
Xi Jinping soll sich locker machen
Sieben Monate vor der Wahl sehen Meinungsforscher Lai als Favoriten. Einer Umfrage zufolge kann er mit 35,8 Prozent der Stimmen rechnen. Seine beiden stärksten Konkurrenten kommen derzeit jeweils auf 23 Prozent: Wen-je Ko, Ex-Bürgermeister von Taipei von der populistischen Taiwan People's Party (TPP) und Yu-ih Hou von der Kuomintang-Partei (KMT). In einer anderen Umfrage führt Lai mit 35,8% während Ko auf 25,9% kommt und Hou auf 18,3%.
In beiden Umfragen bezeichnen sich etwa 20% der Befragten als unentschlossen. Das Rennen ist also noch offen. Zwar sind Lais Werte gut, aber laut einer Umfrage hat er ein Problem: Er schneidet am schlechtesten ab bei den 20- bis 29-Jährigen. Dort hat der Populist Ko fast doppelt so viel Zuspruch. Dabei hat Lais Team bereits eine Reihe fortschrittlicher Initiativen auf den Weg gebracht, um Lai auch für jüngere Wählende attraktiv zu machen. So hat die DPP eine "Abteilung für die Angelegenheiten neuer Immigrantinnen und Immigranten" innerhalb der Partei eingerichtet. Damit will Lai sein Engagement für die Rechte von Einwanderern und seine Anerkennung der Bedeutung von Vielfalt in der taiwanischen Gesellschaft unterstreichen.
Als er kürzlich von jungen Studierenden in Taiwan gefragt wurde, mit welchem Staatsoberhaupt er am liebsten zu Abend essen würde, amüsierte der 63-jährige Lai die Studenten mit seiner Antwort: Xi Jinping. In heiterem Ton sagte Lai, er würde dem chinesischen Präsidenten raten, "sich locker zu machen". Dass Lai bei den jungen Leuten trotzdem weiterhin zurückliegt, ist problematisch. Sie stimmen traditionell für die DPP.
#MeToo: DPP im Zentrum
Weitere Herausforderung für William Lai ist, dass Taiwan seit diesem Monat eine #MeToo-Bewegung hat und dass seine Partei, die DPP, im Zentrum steht. Mehrere ehemalige DPP-Mitglieder prangern sexuelle Belästigung, anschließende Untätigkeit und sogar Fälle von Mobbing gegen die Betroffenen innerhalb der Partei an. Der DPP-Vorsitzende Lai, gegen den es keine Vorwürfe gibt, reagierte schnell: Er entschuldigte sich im Namen der Partei bei den Betroffenen und versprach, die parteiinternen Mechanismen zur Gleichstellung der Geschlechter zu verbessern. Die DPP führte einen Verhaltenskodex ein. Mittlerweile ist Taiwans #MeToo Bewegung nicht mehr auf die DPP beschränkt. Immer mehr Menschen berichten von sexuellen Fehlverhalten. Die Vorwürfe richten sich nun auch gegen Politiker anderer Parteien, gegen prominente Aktivisten, Schriftsteller, Wissenschaftler und andere Personen in Machtpositionen. Der Umgang mit diesen Fällen, einschließlich der Maßnahmen anderer Parteivorsitzender, könnte die öffentliche Meinung zu den Präsidentschaftskandidaten prägen und Wahlentscheidungen beeinflussen.
Nicht erst seit #MeToo wird spekuliert, Lai werde eine Vizepräsidentschaftskandidatin aufstellen. Das würde das progressive Image der DPP unterstreichen. Mögliche Kandidatinnen sind Cheng Li-chun, Taiwans ehemalige Kulturministerin, und Hsiao Bi-khim, Taiwans de-facto-Botschafterin in den USA.
Lai hat noch einen langen Weg zur Präsidentschaft vor sich. Im Wahlkampf werden seine Konkurrenten Lais frühere Äußerungen zur Unabhängigkeit Taiwans gegen ihn verwenden. Die KMT instrumentalisiert Angst und kultiviert ein Narrativ, nach dem ein Wahlsieg Lais den Konflikt mit Peking verschärfen und letztlich zum Krieg führen werde. "Wählt uns, wenn ihr keinen Krieg wollt" lautet ein Slogan der KMT.
Yu-Fen Lai ist Program Officer für Digitale Transformation im Global Innovation Hub, dem Büro der Friedrich Naumann Stiftung für die Freiheit in Taipei.
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