Türkei
Erdogan in Berlin „Die meisten Türken wünschen sich Vermittlung“
Das Verhältnis zwischen Berlin und Ankara ist gespannt. Wie die Deutschland-Reise von Präsident Erdogan in seinem Land bewertet wird, sagt Beate Apelt, Projektleiterin bei der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in Istanbul. Das Interview über Erdogans schrillen Ton und den unbeliebten Migrationspakt führte Marc Beyer und erschien am 17.11.2023 im Münchner Merkur.
Erdogans jüngste Äußerungen schlagen in Deutschland hohe Wellen. Wird das in der Türkei wahrgenommen?
Hier spielt der Besuch keine so große Rolle. In den regierungsnahen Medien wird darüber berichtet, aber der Fokus liegt eher darauf, dass man gemeinsam eine Lösung für den Nahost-Konflikt findet. Es ist auch die Rede von Wirtschaftszusammenarbeit, sogar vom EU-Beitrittsprozess.
Erdogan nennt Israel „Terrorstaat“. Woher kommt die scharfe Rhetorik?
Er hat da eine Kehrtwende vollzogen. In den ersten zehn Tagen hat er sich sehr neutral verhalten und dann erst diese Pro-Hamas-Rhetorik hervorgeholt. Ich glaube, dass das innenpolitische Gründe hat.
Welche?
Das Thema „Solidarität mit den Palästinensern“ haben hier anfangs andere Gruppen besetzt. Eine Vermutung ist hier, dass er dieses Thema für sich und die AKP reklamieren will. Dass er es nicht linken Kräften oder islamistischen Kleinparteien überlassen will.
Anfangs hat er sich noch als Vermittler angeboten.
Er wäre ja auch theoretisch einer, der Zugänge sowohl in die israelische Regierung als auch zur Hamas hat. Aber hier hat ihn offensichtlich keiner als Vermittler haben wollen. Da läuft alles über Ägypten und Katar.
Ist er in dieser Frage nun schriller als andere Stimmen in der Türkei?
Man muss unterscheiden zwischen dem, was aus der Politik kommt, und der Bevölkerung. Erdogan ist auch deshalb sehr stark wahrgenommen worden, weil er eine große Pro-Palästina-Kundgebung terminiert hat auf den Vorabend des 100. Geburtstages der türkischen Republik. Das ist in den säkularen Kreisen und in der Opposition gar nicht gut angekommen.
Wie blicken die türkischen Bürger auf den Konflikt?
Eine Umfrage kurz nach dem 7. Oktober zeigt, dass die meisten Türken sich wünschen, dass die Regierung neutral bleibt oder sich um Vermittlung bemüht. Nur 11,3 Prozent sprachen sich für eine Unterstützung der Hamas aus.
Der Migrationspakt mit Ankara ist faktisch auf Eis gelegt. Sieht sich Erdogan in einer Position der Stärke?
Er hat tatsächlich einen Hebel in der Hand. Offiziell sind vier Millionen Flüchtlinge im Land, inoffiziell sind es mehr. Er hat den Hebel früher schon benutzt und die Grenzen geöffnet, davor fürchtet die EU sich natürlich. Andererseits ist er gerade in keiner starken Position. Die Türkei ist wirtschaftlich nicht gut aufgestellt. Er braucht Handel, Investitionen, und am Ende möchte er sich auch im Nahost-Konflikt platzieren. Schon jetzt ist es so, dass Verletzte aus dem Gazastreifen auch in der Türkei versorgt werden.
Wie wahrscheinlich ist vor diesem Hintergrund eine Annäherung, vielleicht sogar ein neuer Migrationspakt?
Es gibt in der Türkei inzwischen eine ganz starke flüchtlingsfeindliche Stimmung. Es wird schwer sein, eine Erneuerung dieses Deals politisch zu verkaufen.
Aktuell flüchten auffallend viele Menschen aus der Türkei nach Europa. Wie erklärt sich dieser Anstieg?
Das sind überwiegend gebildete Leute. Menschen, die politisch unter Druck kommen, vielleicht Klagen zu fürchten haben, wegen Terrorunterstützung oder der Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung. Diese Leute haben hier schlechte Karten. Auf der anderen Seite ist die Türkei in einer großen Wirtschaftskrise. Auch das ist eine Motivation.