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Türkei
Syrische Geflüchtete im Visier des Populismus

Syrische Geflüchtete

Sowohl die Regierungspartei AKP als auch die Oppositionsparteien instrumentalisieren Geflüchtete im Zuge der bevorstehenden Wahlen

© picture alliance / NurPhoto | Rami Alsayed

Sowohl die Regierungspartei AKP als auch die Oppositionsparteien instrumentalisieren Geflüchtete im Zuge der bevorstehenden Wahlen und versprechen der türkischen Bevölkerung, die Menschen zurück in ihre Heimatländer zu schicken. Denn das wollen laut aktuellem Bericht des Flüchtlingswerkes UNHCR 80 Prozent der Bevölkerung. 30 Prozent befürworten gar eine gewaltsame Abschiebung. Den Preis dieser Politik zahlen hauptsächlich die Geflüchteten selbst. Gewalt und Anfeindungen nehmen kontinuierlich zu.

Auch der türkische Präsident Erdoğan greift das Thema immer wieder auf und stellte im Mai einen Plan vor, eine Million Syrerinnen und Syrer per „freiwilliger Ausreise“ in eine durch die Türkei militärisch und politisch stabilisierte „sichere Zone“ in Nordsyrien umzusiedeln. Der Plan sieht unter anderem den Bau von Wohnungen, sozialen Einrichtungen und Industrieanlagen vor. Eine weitere Strategie der Regierung ist die stärkere Regulierung von Zugewanderten in der Türkei selbst. Erst vor wenigen Tagen verkündete sie ein Quotensystem, welches den Prozentsatz an ausländischer Bevölkerung, die in einem Stadtviertel leben dürfen, ab 1. Juli auf 20 Prozent begrenzt. Dadurch werden bereits 1.200 Stadtteile für weitere Ansiedlung geschlossen.

Damit macht die AKP noch die vergleichsweise moderatesten Vorschläge zum Umgang mit den Geflüchteten. Die CHP konzentriert sich bei ihrer Rückführungsrhetorik hauptsächlich auf die Bedingungen in Syrien. Sie will eine Umsiedlung durch Friedensschluss mit Syrien, die wechselseitige Eröffnung diplomatischer Vertretungen und einen Vertrag zur Gewährleistung der Sicherheit in Syrien unter Leitung der Vereinten Nationen erreichen. Parteivorsitzender Kemal Kılıçdaroğlu möchte mithilfe von EU-Mitteln am Wiederaufbau Syriens mitarbeiten und durch die Eröffnung von Fabriken unter Leitung türkischer Unternehmen Beschäftigungsmöglichkeiten in Syrien schaffen.

Die İYİ-Partei spricht von einer regelrechten Invasion und kritisiert die Regierung heftig für ihre nicht vorhandene Einwanderungspolitik. Ihr Fahrplan für die sichere Rückkehr von Geflüchteten lautet: vollständige Grenzsicherung, Abschaffung des „vorübergehenden Schutzstatus“, Umstrukturierung der Direktion für Migration, Zusammenarbeit mit Syrien, Einführung eines Quotensystems, sofortige Abschiebung von Personen, die ohne Arbeitserlaubnis arbeiten, und Überprüfung bereits erworbener Status.

Auch Ali Babacan, Vorsitzender der DEVA-Partei, beklagt das derzeitige Fehlen einer realistischen und humanen Einwanderungspolitik. Er nennt als Prioritäten seiner Partei den Grenzschutz, die Verhinderung irregulärer Migration und das Finden dauerhafter Lösungen in Syrien für die Rückkehr der Geflüchteten.

Eine besonders laute Stimme im Diskurs, insbesondere auf Twitter, ist Ümit Özdağ, Vorsitzender der Zafer Partisi (Siegespartei), die sich seit Wochen allein mit flüchtlingsfeindlicher Rhetorik profiliert und in Umfragen bereits mit bis zu vier Prozent auftaucht. Er will die Geflüchteten im Notfall auch mit Gewalt zurückschicken und sagt: „Die Wahlen 2023 werden ein Referendum über die Frage 'Bleiben die Flüchtlinge oder gehen sie?‘. Das türkische Volk wird zwischen diesen beiden Optionen wählen.“

Der Versuch, Migration als populistisch aufgeladenes Wahlkampfthema einzusetzen, trägt sichtbar zur weiteren Spaltung der Gesellschaft bei und lässt kaum konstruktive Politikansätze für die Zukunft des Landes erkennen; dass die Bedingungen in Syrien für eine Rückkehr der Geflüchteten noch lange nicht geeignet sind, ist offensichtlich. Von der Türkei durchgeführte Massenrückführungen von syrischen Geflüchteten würden absehbar in den Bereich der Zwangsrückführung fallen, was im Widerspruch zu den von der Türkei unterzeichneten internationalen Abkommen steht. Es wird für die Türkei rechtlich nicht möglich sein, eine Rückführung zu erzwingen oder eine freiwillige Rückkehr realistisch in die Wege zu leiten, solange sich die Bedingungen in Syrien nicht ändern.

Trotz der verbreiteten Meinung, dass Syrerinnen und Syrer nicht dauerhaft in der Türkei bleiben können und in ihr Land zurückkehren müssen, warnen Experten daher seit vielen Jahren, dass dies eine unrealistische Annahme ist. Dies muss auch der Öffentlichkeit begreiflich gemacht werden, und Maßnahmen der Migrations- und Integrationspolitik sollten sich an dieser Realität ausrichten. Im Vorfeld der Wahlen scheint dies schwer zu sein, und insbesondere die Oppositionsparteien nutzen das Thema, um die Regierung vor sich herzutreiben. Die humanitären Bedingungen werden dabei weitgehend ignoriert und Geflüchtete ebenso wie ihre Unterstützer werden insbesondere in den sozialen Medien zur Zielscheibe von Hassrede. Dabei dürfte in der politischen Landschaft kein Zweifel bestehen, dass die Syrerinnen und Syrer sind nicht der Grund für die Wirtschaftskrise und Arbeitslosigkeit in der Türkei sind. Die Zukunft dieser Menschen dem Wahlkalkül der Parteien zu opfern, trägt weiter zur Polarisierung der türkischen Gesellschaft bei und bedroht den Frieden in der Gesellschaft.