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Zwischen Innovation und Eurovision

Israel wird 70
Israel wird 70

Jerusalems Altstadt

© gettyimages/ stellalevi

An Israels 70. Gründungstag ist das Land noch immer Heim für Juden, die dem Holocaust entrinnen konnten. Deutschlands historische Verantwortung ist im jüdischen Staat unverändert präsent und verpflichtet uns zu einer Politik, welche die Sicherheit Israels zum Ziel hat. Damit in den jungen Generationen und unter ihren Politikern nicht noch mehr Distanz wächst, darf ein kritischer Dialog nicht unter Antisemitismusverdacht stehen, sondern muss offen und um Verstehen bemüht sein. Das setzt auf deutscher Seite ein reales Bild des heutigen Israel voraus. Was macht dieses Israel aus, zu dessen Politik alle eine Meinung haben, das aber so viele so wenig verstehen?

An Israels 70. Geburtstag blicken wir auf die Erfolgsgeschichte eines Landes, die einzigartig ist: Israels Streitkräfte sind der militärische Garant dafür, dass das Land in seiner Existenz nicht mehr gefährdet ist, die Hightech-Wirtschaft und renommierte Forschungseinrichtungen sichern Wirtschaftswachstum und Stabilität, das vielfältige religiöse Leben spaltet die Gesellschaft, hält sie aber mehr noch zusammen,  die mentale Stärke der Israelis ist der Schlüssel für unternehmerische Initiative und Wachheit gegenüber Sicherheitsrisiken. Die Diversität der Bevölkerungsgruppen schafft eine besondere kulturelle Kreativität, die das legendäre Israel Philharmonic Orchestra ebenso inspiriert wie die Interpretin, die für Israel gerade den Eurovision Song Contest gewonnen und ihn damit für 2019 nach Jerusalem geholt hat.

Wo Israel vor 20 Jahren grün leuchtete und rund um zahllose landwirtschaftliche Siedlungen der Duft der Zitrusblüte schwer in der Luft lag, da dominieren heute massive Wohnsiedlungen das Bild, die charmanten Landstraßen sind zu Highways mit elektronisch gesteuerter Nutzungserfassung einschließlich einer „Fast Lane“ nach Tel Aviv hinein geworden, die wirtschaftliche Prosperität ist ebenso auffällig wie Orte der Armut. Tel Aviv mit seiner imposanten Skyline, seiner fußgänger- und fahrradfreundlichen Urbanität, seiner heiteren Zivilität ist grundverschieden vom goldenen, religiös geprägten, unfriedlichen, an Touristen erstickenden Jerusalem – dieser Stadt mit ihren zwei Welten, dem irdischen und dem himmlischen, dem jüdischen und dem arabischen Jerusalem.

Jerusalem – Kern des Konflikts und Schlüssel zu seiner Lösung

In Jerusalem leben 550.000 Juden neben 330.000 Arabern, und die Frage der Souveränität über die Stadt und des Zugangs zu den Heiligen Stätten ist der Kern des israelisch-arabischen Konfliktes. Israel hat die Stadt in ihrer Gesamtheit zur Hauptstadt des jüdischen Staates erklärt, aber für die Palästinenser bleibt Kernforderung die nach einem Teil Jerusalems als Hauptstadt ihres Staates, als Symbol ihrer Identität.

Jerusalem ist gesetzlich geeint und faktisch geteilt, es mag die am klarsten geteilte Stadt der Welt sein, es gibt keine gemischten Wohngebiete, Juden und Palästinenser beschreiben ihr Jerusalem als eine jeweils andere Stadt. Die Juden Jerusalems sind israelische Staatsbürger, die Araber der Stadt haben einen – volatilen – Aufenthaltstitel. Der jüdische Westen ist nach Infrastruktur, Dienstleistungen, Bebauung, öffentlichen Einrichtungen eine Welt verschieden von den arabischen Ostteilen, wo die Einkommen geringer, die Armut höher, Baugenehmigungen selten sind und Perspektivlosigkeit eine Islamisierung der Bevölkerung begünstigt.

Israel wird 70

Religionssymbole

© Zanskar/ Istock/ gettyimages

Jerusalem, die Tragische, die Umkämpfte, die Juden, Christen und Muslimen (Al Quds) Heilige, ist eine geteilte, unfriedliche Stadt. Auch wenn es ein binationales Alltagsleben gibt, in dem sich Juden und Araber in Krankenhäusern, Einkaufszentren und bei der Arbeit begegnen. „Jerusalem ist die depressive Hauptstadt eines fröhlichen Landes“ schrieb einmal Amos Oz, der hier lernte, zum „Experten in vergleichendem Fanatismus“ zu werden. Der politisch-rationale Blick auf die Stadt reicht nicht aus, hier „pfuscht die Religion der Politik ins Handwerk“ (Amos Elon).

Wenn Jerusalem der Kern des Konfliktes ist, dann ist es auch der Schlüssel zur Lösung des Konfliktes. Jerusalem als Hauptstadt zweier Staaten wäre geteilt und vereint zugleich, wäre eine im Innern offene Stadt, denn Jerusalem ist unteilbar. Eine Übereinkunft der Konfliktparteien wäre ein Fanal, ein Juden und Arabern gemeinsames Jerusalem würde der Welt zeigen, was Zusammenleben und Toleranz heißen können, die Stadt würde aufblühen – schon jetzt mischen sich vorsichtig ihre kulturellen Szenen, die Beziehungen der Menschen könnten sich normalisieren. Aber das setzt voraus anzuerkennen, dass Jerusalem zwei Städte beherbergt, dass die Souveränität geteilt werden muss, um sie dann gemeinsam auszuüben, um die Kooperation der beiden Seiten zu organisieren.      

Ein Juden und Arabern gemeinsames Jerusalem könnte über die Stadt hinaus das spürbar werden lassen, was der Talmud beschreibt: „Als Gott der Welt zehn Einheiten Schönheit verteilte, da gab er neun an Jerusalem und eine an den Rest der Welt.“

Demographie und Bevölkerung – Fruchtbarkeit überall

In Israels 50. Gründungsjahr, 1998, schrieben Medien und Wissenschaftler von einer demographischen Apokalypse für die Juden Israels, die gegenüber der arabischen Bevölkerung zwischen Jordan und Mittelmeer zur Minderheit zu werden drohten. Heute haben sich die Geburtenraten jüdischer und arabischer Frauen in Israel angenähert, wächst die jüdische Bevölkerung im Verhältnis 3:1 zur arabischen, weist der jüdisch-säkulare Bevölkerungsteil Israels die höchste Kinderzahl aller OECD-Staaten auf.

In Israel leben 6,6 Mio. Juden neben 1,85 Mio. Arabern, in der Westbank und Gaza zwischen 4 Mio. (CIA) und 4,8 Mio. (Palestinian Bureau of Statistics) Palästinenser. Zwischen Jordan und Mittelmeer haben wir damit 6,6 Mio. Juden neben 5,85-6,65 Mio. Arabern/Palästinensern. Ein bi-nationaler Staat hätte damit keine klare jüdische Mehrheit, eine solche Ein-Staatenlösung ist damit keine Option zur Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts. Zu einer Zwei-Staatenlösung gibt es keine Alternative.

Israel ist und bleibt ein Einwanderungsland. Die Zuwanderung bewegt sich in den letzten vier Jahren auf einem Niveau von 28.000 Menschen, die jährlich kommen. 2017 ging die Zuwanderung von Juden aus Frankreich zurück, und es dominierten Juden aus der Ukraine, Russland, den USA und Brasilien. In früheren Jahren waren nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion bis zu 200.000 Menschen jährlich gekommen, Israels Bevölkerung war zwischen 1990 und 2012 um fast 67 (!) Prozent gewachsen, was zu einem signifikanten Wirtschaftswachstum führte.

Wirtschaft – High-Tech-Nation neben Strukturschwäche

Es gibt ihn noch, den Kibbuz, dieses sozialistisch inspirierte Modell des gemeinsamen Arbeitens und Lebens, das sich in Krisen freilich erheblich gewandelt hat und stagniert. Heute gilt Israel als „Start-up Nation“, beherbergt nach den USA die weltweit höchste Zahl dieser Unternehmen, die 2017 mehr als 5 Mrd. USD Umsatz aufwiesen.

Israels offene Volkswirtschaft bringt es auf ein BIP (ppp) von USD 36.200 (2016 CIA), Deutschland auf 50.000 (2017 CIA). Geschliffene Diamanten, Hochtechnologie und pharmazeutische Produkte sind wichtige Exportgüter. Rohöl, Getreide, Rohstoffe und Militärgüter dominieren die Importe. Israel hat regelmäßige Handelsdefizite, die durch Tourismus, Dienstleistungsexporte und Auslandsinvestitionen gemildert werden. Die Entdeckung großer Gasvorkommen lässt auf eine größere Energiesicherheit für das Land hoffen.

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Azrieli Tower in Tel Aviv

© natushm/ iStock / Getty Images Plus

Israels Wirtschaft hat erhebliche strukturelle Schwächen: Die Einkommensunterschiede und Armutsraten sind unter den höchsten der OECD, hohe Mieten und Lebenshaltungskosten verlangen nach Reformen, die größten und ärmsten Bevölkerungsgruppen, Ultraorthodoxe und Araber, sind zu wenig in den Arbeitsmarkt eingegliedert. Die Wirtschaft ist zweigeteilt: Es schwebt die Tech-Start-up Industrie wie ein Zeppelin über den maroden, klassischen Wirtschaftssparten von Produktion und Dienstleistungen, die unter globalem Wettbewerb leiden und wenig produktiv sind. Israels gefeierte Start-ups beschäftigen nicht mehr als 10% der Beschäftigten, und ihre Erfolgsgeschichte lässt leicht übersehen, dass das Schulsystem und die Ausgaben hierfür im OECD-Vergleich allenfalls medioker sind. Israels innovative Jungunternehmer holen sich ihre kreativen Fähigkeiten in der Armee, wo sie sich jahrelang mit cyber-warfare beschäftigen und das Problemlösen, Entscheiden und Überwinden von Fehlschlägen lernen. Und sie gehen aus renommierten Forschungseinrichtungen hervor, für die Israel mit 4% seines BIP mehr ausgibt als irgendein anderes OECD-Land.

Sicherheit und die Rolle der Zivilbevölkerung – Eine Lehre für Europa

Israels Sicherheitslage ist prekär. Die Bedrohungen umfassen Raketenarsenale vor allem von Hizbollah und Hamas, die Gefahr einer iranischen Atombombe, die existentiell wäre, dazu terroristische Anschläge im Inneren Israels, die ein ständiger Begleiter im Alltagsleben sind. Israels Sicherheitsstrategie ist komplex, sie hält die militärischen Kapazitäten auf höchstem Niveau und zielt darauf ab, Konflikte auf gegnerisches Territorium zu tragen. Israel setzt daneben auf Diplomatie, die Stärke des Landes beruht auch auf einer starken Wirtschaft, auf verlässlichen Bündnispartnern und auf der mentalen Stärke und Entschlossenheit der Bevölkerung, sich zu verteidigen.

Auf die erste Phase der äußeren Bedrohung Israels in den Kriegen seit der Staatsgründung 1948 bis 1973 folgte ab 1987 die zweite Phase von Angriffen gegen die Zivilbevölkerung mit dem Versuch einer inneren Destabilisierung der Gesellschaft. Es entstand eine neue Qualität der Bedrohung Israels, durch Anschläge im Inneren (Intifada, Selbstmordanschläge) und durch weiterentwickelte Raketen in Iran und Syrien bzw. in Händen der nicht-staatlichen Akteure Hamas und Hizbollah. Diese Raketen zielen bis heute auf die Zivilbevölkerung, und Israel erkannte in dieser zweiten Phase, dass die bis dahin rein militärische Strategie gegen die neue Art der Bedrohung nicht mehr griff, dass Abschreckung und militärische, offensive Überlegenheit die Zivilbevölkerung auch psychologisch nicht mehr ausreichend schützen konnten.

Im Kampf gegen den Terror hat Israel damals und bis heute seiner Zivilbevölkerung eine strategische Rolle gegeben: Sie wird mit Instrumenten der klassischen „Gefahrenabwehr im täglichen, zivilen Leben“ (civil defence) bestmöglich geschützt, und es wird ihre psychische, gesellschaftliche Widerstandsfähigkeit systematisch bewahrt und stabilisiert. Denn es war und ist das Ziel und die Strategie von Israels Gegnern, die psychische Widerstandsfähigkeit (resilience) der israelischen Gesellschaft durch Angst und psychologische Demoralisierung zu schwächen. So wie die Islamisten heute in Europa wollen, dass unsere Gesellschaften in Reaktion auf den Terror in Intoleranz versinken und wir unsere freiheitlichen Bürgerrechte und die Freiheiten einer offenen Gesellschaft aufgeben.

Demokratie – Den jüdischen und demokratischen Staat bewahren

Israels Demokratie ist aus der Unabhängigkeitserklärung von 1948 hervorgegangen, nach welcher der Staat allen Einwohnern, explizit auch der arabischen Bevölkerung, gleiche politische Rechte und die Freiheit der Religionsausübung zusagte. Israels Demokratie hat sich in den äußeren und inneren Spannungen bewährt, hat umstrittene Reformen und umkämpfte Friedensverträge durchgesetzt. Wahlen sind frei und umfochten, alle gesellschaftlichen Gruppen sind in der Knesset vertreten, demokratische Machtwechsel Normalität; der Staat garantiert bürgerliche Grundrechte wie die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit.

Es gibt freilich auch einen besorgniserregenden Trend zur Unterminierung demokratischer Werte und Einrichtungen durch anti-demokratische Gesetzesinitiativen der aktuellen Regierungskoalition und durch die Aktivitäten vor allem national-religiöser Interessengruppen. Wir beobachten Versuche, die Gewaltenteilung und die “Checks and Balances“ zugunsten des Gesetzgebers und der Regierung zu verändern, darüber hinaus eine gefährliche politische Rhetorik, die Andersdenkende als Feinde des Staates delegitimiert. Im Visier sind dabei die Wächter der Israelischen Demokratie, der Supreme Court, die Opposition, besatzungskritische Organisationen der Zivilgesellschaft, Medien, Staatskontrolleur, Polizeikommandeur und öffentliche Rundfunkanstalten. Die Demokratie wird zunehmend verengend als Herrschaft der Mehrheitsmeinung verstanden; die vielleicht bedrohlichste Spaltung Israels besteht zwischen denen, die eine tolerante, freiheitlich-parlamentarische Demokratie wollen, und denen, die für ein intolerantes, hohles, leicht ins Autoritäre führende Demokratiemodell der Mehrheitsherrschaft stehen.

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Knesset in Jerusalem

© peterspiro/ istock/ gettyimages

Viele dieser, die demokratische Substanz antastenden Gesetzgebungsinitiativen, vor allem solche einzelner Abgeordneter (private bills), scheitern regelmäßig in Ausschüssen der Knesset, aber sie haben dann schon ihren polarisierenden Effekt in Gesellschaft und politischem Diskurs entfaltet und – wie das Gesetz “Nationalstaat des jüdischen Volkes“ – weiteres Vertrauen im jüdisch-arabischen Beziehungsgeflecht zerstört.

In Umfragen wird deutlich, dass die Bürger viel an Vertrauen in Parteien, Parlament und Regierung verloren haben. Das verlangt nach Reformen von Israels Demokratie: Gruppen mit nur engen, kurzfristigen Interessen müssen in ihrem parlamentarischem Einfluss eingedämmt, Mechanismen zur Konsensbildung über Fragen israelischer Identität (jüdisch versus demokratisch, religiös versus säkular, jüdisch versus arabisch) etabliert werden. Der langjährige Status Quo im Verhältnis Religion und Staat trägt nicht mehr und muss zugunsten eines größeren innerjüdischen, innergesellschaftlichen Pluralismus reformiert werden. Eine Verfasung würde dem Staat das klassische Fundament einer freiheitlichen Demokratie geben.  

Doch trotz aller Verengung demokratischer Spielräume bleibt der öffentliche politische Diskurs im Lande weiterhin lebendig, hören wir weiter gesellschaftliche Stimmen, die zur Besonnenheit im Zusammenleben mit der arabischen Minderheit aufrufen und zu einem Ende der Herrschaft über die Palästinenser in Westbank und Gaza. Das würde den hohen Druck auf die demokratischen Institutionen mindern, den etwa radikale Protagonisten eines Groß-Israel verursachen. Nur eine Friedenslösung beseitigt Spannungen und garantiert Israels Charakter als jüdischer und demokratischer Staat.

Ulrich Wacker ist Projektleiter Israel und Palästinensische Gebiete der Friedrich-Naumann-Stiftung Jerusalem.